Anatomisches und physiologisches zum Schwindel für Interessierte Der Vestibularapparat oder das Gleichgewichtsorgan: (modifiziert aber orientiert an A.Hönigmann, Wien Oberarzt an der Abteilung für Hals-, Nasen- und Ohrenkrankheiten & PhoniatrieKrankenhaus der Barmherzigen Brüder Wien Große Mohrengasse 9 A - 1021 Wien) Wir sehen in der Regel die Aufrechterhaltung unseres Gleichgewichts als etwas selbstverständliches an, sind doch auch niedere Tiere oft von Geburt an dazu in der Lage. Das System ist dennoch komplex, wir Menschen müssen die Aufrechterhaltung unseres Gleichgewichts lernen. Durch den aufrechten Gang werden die Anforderungen besonders schwierig. Für die Regulierung des Gleichgewichts bedürfen wir der integrierten Leistung verschiedener System. Das Gleichgewichtszentrum sitzt im Hirnstamm. Informationen über die Augen, das Gleichgewichtsorgan, Muskelspindeln, Gelenkrezeptoren müssen im Hirnstamm integriert werden. Sie werden mit gelernten Bewegungsabläufen wie sie im Kleinhirn gespeichert sind und mit beabsichtigten Bewegungen, Emotionen etc. aus der Hirnrinde abgestimmt. Dann können die Impulse zu den Muskeln und Augen gehen um das "Gleichgewicht" aufrecht zu erhalten. Mit regelmäßiger Wiederholung werden bestimmte Bahnen und Schaltungen in diesem System besonders ausgebaut, Training führt so zur Automatisierung und Verfeinerung bestimmter auch sehr komplexer Bewegungsabläufe, ohne dass sie jedes mal bewusst geplant werden müssen. Wir alle kennen dies vom Schwimmen lernen oder Fahrradfahren lernen. Bei Schädigungen im Gleichgewichtssystem müssen wir manchmal mit Hilfe eines Krankengymnasten bestimmte zuvor bereits automatisierte aber verloren gegangene Abläufe wieder erlernen. Anatomisch geht es auf dieser Seite überwiegend um das Gleichgewichtsorgan. für die Entstehung von Schwindel sind aber zusätzlich die genannten weiteren Systeme verantwortlich. Hinzu kommen Sinnestäuschungen. Jeder kennt die Situation, man sitzt in einer Straßenbahn oder einem ICE, der Zug auf dem Nachbargleis fährt los, wir sind uns unsicher ob unser Zug oder der Zug auf dem parallelen Gleis losfährt und empfinden kurzfristig Schwindel. Hier widersprechen sich die Wahrnehmungen unserer Augen und die Wahrnehmungen unserer anderen Bewegungsmelder. Eine Sinnestäuschung löst letztlich den Schwindel aus. Unser Wahrnehmungssystem ist Opfer vielfältiger Sinnestäuschungen. Vielfältige Möglichkeiten für die Entstehung von Schwindel sind das Ergebnis. Üblicherweise sind die Leistungen unseres Gleichgewichtssystems automatisiert. Wir müssen uns nicht darum kümmern. Nur bei Störungen wird uns bewusst, dass die Aufrechterhaltung des Gleichgewichts überhaupt eine Leistung ist. Die Tatsache der Automatisierung auf einer nicht bewussten Ebene hat zusätzlich den Vorteil, dass wir die Energien für wichtigere bewusste Handlungen übrig behalten.
Wird das Gleichgewichtsorgan gereizt, so leitet sich die Erregung über den Gleichgewichtsnerven in den Hirnstamm und von dort über die Augenmuskelkerne zu den Augenmuskeln fort. Dadurch kommt es zu einer Bewegung des Augapfels (Bulbus). Dieser Reflex ermöglicht indirekt, über Beobachtung der Augenbewegungen, Rückschlüsse auf die Funktion des Vestibularorgans und des vestibulären Systems zu ziehen. Am interessantesten ist dabei der Nystagmus.
Ruckartige rhythmische an beiden Augäpfeln gleichsinnige rasche Bewegung der
Augäpfel. Augenzittern. Bei der
Prüfung der Augenbewegungen wird auf die Existenz oder das Nichtvorhandensein
von Nystagmus (unwillkürliche Augenbewegungen in horizontaler, vertikaler oder
rotierender Richtung) geachtet. Blickrichtungsnystagmus in extremer Endstellung,
der rasch nachläßt, ist in der Regel ohne pathologischen Hintergrund.
Blickrichtungsnystagmus: Auftreten von Rucknystagmus mit einer
schnellen und langsamen Komponente beim Blick nach links oder nach rechts, nach
oben oder unten. Die schnelle Bewegung erfolgt in Blickrichtung.
optokinetischer Nystagmus: Auftreten von Nystagmus bei Verfolgung
bewegter Gegenstände mit den Augen, z.B. fahrender Zug, rotierende
Schwarzweiß-Streifen. Augenbewegungen,
die durch Betrachten eines bewegten Streifenmusters ausgelöst werden (z.B. von
regelmäßig angeordneten Telegrafenstangen aus einem fahrenden Zug).
Üblicherweise zeigen die Augen langsame Folgebewegungen (langsame
Nystagmuskomponente) in Richtung der Bewegung, die regelmäßig von Sakkaden in
Gegenrichtung unterbrochen werden (rasche Komponente des Nystagmus).
Bei parietalen Läsionen können
(unabhängig von einer eventuellen Hemianopsie) efferente Bahnen vom visuellen
Kortex zu tiefer gelegenen Zentren für konjugierte Blickbewegungen unterbrochen
sein; in solchen Fällen ist die optokinetische Nystagmus ausgefallen, wenn man
z.B. ein gestreiftes Wäschestück oder ein mit kommerziell erhältlichen
Klebestreifen hergestelltes Streifenmuster über das Gesichtsfeld in Richtung der
Seite der Störung bewegt. Optokinetischer Nystagmus ist bei hysterischer
Blindheit erhalten. Pendelnystagmus: Hin- und Herpendeln
der Augen beim Blick geradeaus oder beim Fixieren von Gegenständen, meist
angeboren. Es fehlt eine bevorzugte
Schlagrichtung,Rucknystagmus: bestehend aus einer nach
der kranken Seite langsamen und nach der Gegenseite schnellen Bewegung.
Vestibulärer Nystagmus. Konstante Schlagrichtung vom ausgefallenen
Vestibularorgan weg, in dieser Blickrichtung am ausgeprägtesten. Eingeteilt wird
in folgende Schweregrade: Grad I nur beim Blick von der erkrankten Seite
weg, Grad II auch beim Blick geradeaus (Spontannystagmus),
Grad III auch beim Blick zur erkrankten Seite. Weil die Fixation hemmend wirkt,
sieht man diesen Nystagmus unter der Frenzel-Brille oder beim Augenspiegeln am
besten. Eine rotatorische Komponente ist möglich. Brechreiz/Erbrechen und
Fallneigung (besonders beim Blindgang) zur erkrankten Seite sind typische,
Vorbeigreifen und Vorbeizeigen mögliche Begleiterscheinungen. Meistens handelt
es sich um eine Störung des peripheren Vestibularorgans. Ausgeprägtes
Verzerrtsehen soll für eine Kernläsion im Hirnstamm sprechen. Die sichere
Unterscheidung zwischen peripherer und zentraler vestibulärer Störung ist nur
durch zusätzliche Ausfälle oder apparative Funktionsprüfungen möglich.
Lageabhängiger Nystagmus. Der häufige benigne paroxysmale Lagerungsnystagmus
ist durch seitliche Kopfhängelage provozierbar mit Schlagrichtung zum unteren
Ohr, wird begleitet von Drehschwindel, manchmal auch Brechreiz. Das
Wiederaufrichten löst erneut Schwindel aus. Er ist inkonstant, tritt mit Latenz
von mehreren Sekunden nach Lagerung auf, dauert mehrere Sekunden und erschöpft
sich bei wiederholter Auslösung (Habituation). Ein zentraler Lagenystagmus
ist demgegenüber ständig reproduzierbar, hat keine Latenz, schlägt bei der
Lagerungsprobe zum oben liegenden Ohr, vertikal oder in wechselnde Richtungen
und hat nicht immer eine klare Beziehung zu den Schwindelbeschwerden. Er hört
erst auf, wenn die auslösende Position verlassen wird. Upbeat-Nystagmus.
Nystagmus mit Schlagrichtung nach oben in der Neutralposition. Er spricht
für eine Hirnstamm- oder Kleinhirnwurmerkrankung unabhängig von der Ursache,
kommt aber auch bei Intoxikation mit Barbiturat vor. Downbeat-Nystagmus.
Nystagmus mit Schlagrichtung nach unten in der Neutralposition, häufig mit
begleitenden Oszillopsien. Er ist ätiologisch unspezifisch, weist aber auf eine
Störung am kraniozervikalen Übergang hin. Arnold-Chiari-Mißbildungen sollen zu
den häufigsten Ursachen gehören, Intoxikationen zu den seltenen. Paretischer
Nystagmus. Bei Blickparesen ebenso wie bei Augenmuskelparesen gleich welcher
Ursache kommen unregelmäßige, grobe und langsame Nystagmen vor, die einem
Nachlassen des intendierten Muskelzugs und der Korrektur durch
Nachstellbewegungen entsprechen.
Koordination An der Koordination, die das Zusammenspiel der verschiedenen Leistungen des Bewegungsapparates abstimmt, sind weite Bereiche des Nervensystems beteiligt. Vielfältig sind daher die Störungsmöglichkeiten der Koordination, wobei neben Großhirn und peripheren Nerven vor allem das Kleinhirn, extrapyramidale, auch Rückenmarksbahnen und das Gleichgewichtsorgan beteiligt sind. Neugeborene, wenn man ihnen eine Rassel in die Hand gibt: Unabsichtlich schlagen sie sich damit auf den Kopf. Ihr unkoordiniertes Strampeln sieht aus wie das Zappeln eines auf den Rücken gedrehten Käfers. Der Grund: Sie haben ihre Extremitäten noch nicht unter Kontrolle. Erst Jahre später und ist bepackt mit der Hälfte der Neuronen des gesamten ZNS. Menschen, deren Kleinhirn durch einen Unfall, Schlaganfall oder Tumor geschädigt wurde, verlieren die Fähigkeit zur abgestimmten Bewegung: Ihre Sprache wird verschwommen, sie torkeln wie Betrunkene und sind kaum in der Lage zu gezielten Manövern, wie etwa einen Schlüssel ins Schloss zu stecken. Stimmen Vorhersage und Realität nicht überein, geht aber auch beim Gesunden etwas schief: Wenn wir z. B. gedacht haben, die Milch-Packung sei voll, stimmt die Vorhersage nicht weil sie leer ist, fliegt uns durch das schnelle, gezielte Bewegungsmusters die Packung mit der Milch um die Ohren. Für jede noch so kleine Bewegung müssen unzählige Muskeln aktiviert werden, deren Kraftentwicklung exakt aufeinander abzustimmen ist. So können wir z. B. eine Milch-Packung mit genau dem richtigen Maß an Muskelkraft hochheben, ohne etwas zu verschütten. Das gelingt aber nur, weil unser Kleinhirn eine exakte Vorhersage des Bewegungsmusters entwirft, noch bevor der motorische Befehl an die Muskulatur geht. ,,Das Kleinhirn ist unser eigenes ,Virtual Reality'-Zentrum, d a s Simulationen unserer Bewegungen entwirft". (New Scientist 1999; 2185: 42-45). Es nimmt ein Zehntel unseres Schädelinnenraums ein. Das Kleinhirn trifft seine Vorhersage und gibt seine Kommandos an die Muskeln, bevor es eine sensorische Rückmeldung von der Hand erhält. Wäre es allein auf das sensorische Feedback angewiesen, könnten wir uns nämlich nur sehr langsam bewegen. Die sensorische Rückmeldung sorgt dann allerdings dafür, dass das antizipierte Bewegungsmodell laufend korrigiert und aktualisiert wird. Wahrscheinlich, entwirft das Kleinhirn seine Prognosen aus den zahlreichen Bewegungsmodulen, die während der körperlichen Entwicklung nach und nach erlernt wurden. Es besitzt ein jeweils aktuelles Bild der Körperposition und antizipiert die nächste Position mit Hilfe der vorhandenen Schablonen für jedes mögliche Bewegungsmuster. Diese Schablonen reichen vom Eislaufen oder Schwimmen bis zum Schreiben mit Stift oder zum Autofahren. Manche dieser Module, etwa das Ballspielen, können relativ flexibel auf verschiedene Bewegungsabläufe angewendet werden, während andere, wie Fahrradfahren, Schwimmen oder Skifahren, hochspezialisiert und nicht-überlappend sind. Möglicherweise lernt ein Kind deshalb solche spezifischen Fähigkeiten leichter als ein Erwachsener, weil es noch über genügend ,,leere" Module verfügt. Einmal gefüllt, werden diese Spezialschablonen dann offenbar vor dem ,,überschreiben" geschützt und nie wieder verlernt. Warum man sich selbst nicht kitzeln kann: Um Bewegung und Realität in Einklang zu bringen, braucht das Kleinhirn natürlich schon die sensorische Rückmeldung. Doch mit einem einfachen Feedback ist es nicht getan: Das Hirn muss zwischen Sensationen, die vom eigenen Körper ausgehen, und von außen kommenden unterscheiden können. ,,Wir dürfen unsere eigene Berührung ignorieren, aber nicht die fremde. Es könnte ja eine giftige Spinne sein, die unsere Beine hinaufkriecht", Deshalb werden selbstgenerierte Sensationen schwächer wahrgenommen als externe Stimuli. Dies, zusammen mit der Fähigkeit, die Konsequenzen unserer Bewegungen zu antizipieren, erklärt, warum wir uns selbst nicht kitzeln können. Bei Schizophrenen ist diese Unterscheidungsfähigkeit des Gehirns offenbar gestört. Eigene Bewegungen und Gedanken werden nicht als selbstgeneriert erkannt, sondern fälschlich als externe Ereignisse interpretiert. Daher müssten Schizophrene sich selbst kitzeln können, was experimentell in dieser Arbeit tatsächlich so war. (Fortschr. Neurol. Psychiat. 68,2000) Die Prüfung der Koordination siehe Finger- Nase-Versuch. spinale Ataxie: infolge Schädigung sensibler Bahnen im Rückenmark gelangen Informationen über Stellung der Gelenke und Spannung der Muskulatur nicht mehr zur entsprechenden Zentrale des Gehirns. Wegen dieses Informationsmangels werden Bewegungen nicht mehr steuerbar.
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