Somatoforme Schmerzstörung

Bei Patienten mit einer Somatoformen Schmerzstörung stehen länger anhaltende Schmerzsymptome (chronischer Schmerz) im Vordergrund, welche durch einen physiologischen Prozess oder eine körperliche Störung nicht hinreichend erklärt werden können. Die Somatoformen Schmerzstörung bei der psychischen Belastungen und Konflikten eine ursächlich führende Bedeutung zukommt, darf nicht verwechselt werden mit chronischen Schmerzsyndromen allgemeiner Art, bei denen sich regelmäßig neben organischen auch psychologische Faktoren in der Schmerzauslösung und -unterhaltung identifizieren lassen. Je nach verwendeten Diagnosekriterien (Normabweichungen im körperlichen Befund „erlaubt“?) liegt die Prävalenz der Somatoformen Schmerzstörung unter Patienten mit chronischem Schmerz zwischen 1 und 40%. Eine linear-kausale Beziehung zwischen der psychosozialen Belastung und Manifestation von Beschwerden inkl. Schmerz, kann anhand empirischer Studien klar in Frage gestellt werden. Vor dem Hintergrund der klassischen psychoanalytischen Betrachtungsweise, welcher das Reiz-Reaktions-Prinzip zugrunde liegt, wird nach wie vor in der Praxis eine linearkausale Beziehung zwischen (früheren und aktuellen) psychosozialen Belastungen und inadäquatem Krankheitsverhalten inklusive Schmerzerleben angenommen. Als deren Grundlage wird oft eine bestimmte (sog. neurotische) Persönlichkeitsstörung postuliert. Nach wie vor wird dabei vertreten, dass einer bestimmten Persönlichkeitsstörung eine besondere, in der Regel belastende Entwicklungsgeschichte (sog. neurotische Fehlentwicklung) zugrunde liegt. Es wird dabei vergessen, dass die belastenden Entwicklungen viel häufiger sind, als es dem Anteil von Persönlichkeitsstörungen in der Bevölkerung entspricht. Nach wie vor stellt man fest, dass, wenn Aspekte einer unoptimalen Entwicklung im anamnestischen Interview verifiziert werden, diese in einer unreflektierten Weise als Beleg für eine Psychogenie der Beschwerden gewertet werden. Eine gewisse Disposition zu einem bestimmten Schmerz- und Krankheitsverhalten wird gemäß Forschung u. a .durch kulturspezifische und religiöse Faktoren bestimmt. Ferner sind in diesem Zusammenhang soziale Variablen (z. B. Einfluss der Partnerschaft, der Familie) von Bedeutung. Das bedeutet dennoch nicht eine linear-kausale unilaterale Beziehung. Vielmehr kann der Einfluss dieser Faktoren sowohl negativ (d. h. schmerzverstärkend) als auch positiv (d. h. schmerzmindernd) sein. Als ein Faktor, der das Schmerzerleben beeinflusst, gilt die Emotionalität. Die Bedeutung der Emotionalität in dieser Hinsicht ist problematisch, weil eine Störung der Emotionalität eine Konsequenz des chronischen Schmerzes, aber auch Ursache des chronischen Schmerz sein kann. Deshalb soll bei den chronischen Schmerzen die Entwicklung der emotionalen Aspekte des Patienten über Zeit erörtert werden, zumal wenn es um forensische Fragestellungen geht. Von allen Emotionen, die für das Schmerzerleben bedeutsam sind, ist in erster Linie die Depressivität hervorzuheben. Depressivität findet sich in einem sehr unterschiedlichen Prozentsatz der chronischen Schmerzpatienten. Die Spanne reicht von unter 10 bis über 50 %. Als weitere beeinflussende Emotionen des Schmerzerlebens werden Angst und Wut postuliert. Neuere Studien weisen im wesentlichen darauf hin, dass Depression eher als Folge des Schmerzerlebens und der sozialen Konsequenzen (d. h. Veränderung der folgenden Aspekte: Arbeit, Familie, soziale Rolle) zu verstehen ist als umgekehrt. Wie auch immer entstanden, hat die Depressivität einen amplifikatorischen Einfluss auf das Schmerzerleben, wobei der Fachmann oft einem Circulus vitiosus begegnet. Die Hypothese der Schmerzpersönlichkeit Die Hypothese der sog. Schmerzpersönlichkeit geht von der biologischen Funktion des Schmerzes als Schutzmechanismus aus und postuliert den Schmerz als Schutz vor innerer Verletzung. Danach würden Individuen, bei welchen Schmerz mit beziehungsmäßigen Frustrationen während der Entwicklungsphase verknüpft wurden, dazu neigen, in Situationen, in welchen ihr inneres Gleichgewicht in Gefahr ist, mit Schmerzen zu reagieren. Als Frustrationen während der Entwicklungsphase wurden erkannt: emotionale Ablehnung, körperlicher oder sexueller Missbrauch, fortdauernde Spannungen in der elterlichen Ehe sowie Trennung oder Scheidung, chronische Krankheit oder der frühe Tod von wichtigen Bezugspersonen. Ebenfalls wird bei diesen Individuen die Übernahme der Verantwortung oder der Vermittler- bzw. Sündenbockrolle innerhalb der Ursprungsfamilie sowie eine Leistungsorientiertheit innerhalb der Familie anamnestisch nachweisbar sein. Vor dem Hintergrund der genannten Belastungen kann als Ausdruck der Abwehr eine Persönlichkeit entstehen, die den Schmerz im Sinne eines innerseelischen Gleichgewichts benötigt. Neuere Forschungen konnten hingegen keine signifikant positive Beziehung zwischen neurotischen Abwehrmechanismen und einer höheren Morbidität nachweisen. Im Gegenteil, eine bestimmte Abwehrstruktur wurde als ein gesundheitsstabilisierender Faktor erkannt. Im Einklang damit konnten Verlaufsuntersuchungen belegen, dass die wechselnden psychosozialen Bedingungen, einschließlich Beziehungsaspekte, einen wesentlich wichtigeren Beitrag für die Entwicklung von Beschwerden inklusive Schmerzen haben als eine psychische Disposition. Es sollte auch betont werden, dass gewisse Personen, die vor der Traumatisierung scheinbar unauffällig waren oder gar besondere Leistungen erbracht haben, ohne jemals krank gewesen zu sein, dies vor dem Hintergrund eines enorm labilen inneren Gleichgewichts erreicht haben (sog. Workaholics). Solche Individuen können bei leichter Traumatisierung vollends aus dem Gleichgewicht geraten und nurmehr schwer auf den Weg der Besserung bzw. Genesung zurückfinden. Schließlich soll betont werden, dass die moderne Persönlichkeitsforschung davon ausgeht, dass wichtige Persönlichkeitsmerkmale genetisch determiniert werden. Vor diesen Faktoren gilt der Neurotizismus als jener Faktor, der das Wahrnehmen und Äußern der Beschwerden in spezifischer Weise prägt, in der Regel verstärkt.

 

Quellen / Literatur:

Somatisierungsstörung Radanov in Orthopäde 1998,27:846-853,Springer-Verlag 1998)

Dr. Johannes Werle

Dr. med Johannes Werle

Redakteur