Krankheitserfindung

Ernsthafte Experten sehen ein zunehmendes Problem für die allgemeine Gesundheit durch immer neue Definitionen von Krankheiten, die überwiegend den Zweck verfolgen Profit zu machen, und Sorgen um die allgemeine Gesundheit hintan stellen. Nicht nur die Pharmaindustrie auch Ärzteverbände, Psychotherapeuten und Selbsthilfegruppen sowie Anwälte haben nicht selten ein eigennütziges Interesse an der Definition neuer Krankheiten. Es wurde hierfür 1992 von Lynn Payer der Begriff des Disease Mongering geprägt- den man etwa mit Krankheitsverkauf übersetzen könnte. Gefahr besteht dabei nicht zuletzt auch durch Selbstdiagnosen via Internet. Häufig ist der Öffentlichkeit nicht bekannt, dass mittlerweile auch beispielweise die Pharmaindustrie nicht nur Ärzte sondern auch Selbsthilfegruppen finanziell unterstützt, und sogar Selbsthilfegruppen passend zum neuen Präparat gründet. Wie oben aufgeführt, ist aber die Industrie nicht der einzige Interessenverband der von neuen Krankheiten profitiert. Eine humorvolle Darstellung finden Sie auch Heiterkeitsstörung, generalisierte (GHKS)

Beispiel ist die männliche Glatzenbildung. Pünktlich zur Einführung eines neuen Medikamentes erschienen in den Medien Berichte über die schweren emotionalen Konsequenzen und das erhöhte Risiko der Arbeitslosigkeit. In keinen dieser Berichte war die Herkunft vom Medikamentenhersteller erkennbar. Beim Marketing eines Medikamentes gegen soziale Phobien soll der Hersteller ebenfalls Selbsthilfegruppen bezüglich der krankhaften Schüchternheit gesponsert haben, so dass Informationen der Industrie scheinbar über die Selbsthilfegruppe an die aufnahmebereiten Medien gelangten, ohne dass die Öffentlichkeit den wahren Autor kannte. Die Einführung eines Dopaminagonisten in der Behandlung des restless legs Syndroms (RLS) war begleitet von Appellen in den Medien, dass Ärzte über diese neue Krankheit noch immer nicht Bescheid wüssten und forderte die Patienten zur Selbstdiagnose auf der Webseite einer Selbsthilfeorganisation auf, die vom Hersteller gesponsort war. Ähnliche Vorgänge gab es auch beim Reizdarmsyndrom. Die viel kritisierte Vermehrung der Menschen mit zu hohem Cholesterin durch entsprechende Publicity der Industrie wird hingegen heute als überwiegend der Volksgesundheit dienend angesehen, da die vermehrte Verordnung von Statinen inzwischen sinnvoll erscheint. Die Schäden durch die Verwandlung persönlicher Probleme in Krankheiten, die dringend einer Behandlung bedürfen zeigen sich nicht nur am Selbstbewusstsein der neu gewonnenen Patienten, sondern auch in deren Geldbeutel. Besonders hart trifft dies die Menschen mit dem kleinen Geldbeutel und Bewohner von Entwicklungsländern. Aber auch unsere Sozialversicherungen leiden.

Eine Vorbild für Krankheitserfinder ist die Komödie «Knock ou le triomphe de la Médecine». Dr. Knock übernimmt von seinem Vorgänger eine schlecht laufende Praxis in einem Bergdorf. Alle Bewohner sind gesund und gehen nicht zum Arzt. Seine Idee:“Gesunde Menschen sind nur Kranke, die von ihrem wahren Zustand nichts wissen (Tout homme bien portant est un malade qui s’ignore)“. Es gelingt dem Hochstapler die Bewohner von seinen Diagnosen zu überzeugen, und zu den teuren Behandlungen und Bettruhe zu motivieren. Er setzte schon damals die leicht zu täuschenden Medien (Gemeindeausrufer) gewinnbringend für die Werbung ein. Der Dorfschullehrer wird durch suggestiv erzeugte Überzeugung, selbst ein Opfer der Krankheit zu sein, gewonnen, die Schüler aufzuklären (auch heute darf man ja den Einfluss der Kinder auf das Konsumverhalten der Erwachsenen und das Ansehen der Lehrer nicht unterschätzen). Beim Apotheker und Hotelbesitzer hat er es einfacher. Der Apotheker bekommt wie versprochen mehr Umsatz, der Hotelbesitzer Vollbelegung. Das Theaterstück von Jules Romains wurde 1923 Paris uraufgeführt, und seit dem mehrfach verfilmt.

Aldous Huxley: «Die medizinische Forschung hat so enorme Fortschritte gemacht, daß es praktisch überhaupt keinen gesunden Menschen mehr gibt.»

 

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Dr. Johannes Werle

Dr. med Johannes Werle

Redakteur