Gangstörung

Gangstörungen nehmen mit dem Lebensalter zu. 10–15% aller Menschen, die älter als 60 Jahre 25–30% der 80 jährigen leiden an einer Gangstörung, aber immerhin 20% der Hundertjährigen haben noch einen normalen Gang. Gangstörungen bedeuten ein Verletzungsrisiko und führen zu Unselbstständigkeit und sozialem Rückzug. Die korrekte Diagnose verbessert die Behandlungsaussichten erheblich. Neben der ärztlichen Diagnostik von Krankheitsursachen ist besonders im Alter auch an eine ärztliche Verursachung der Gangstörung durch Medikamente zu denken: Medikamente die Gangstörungen auslösen können (nach Lancet Neurol 2007; 6: 63–74): Sämtliche Antipsychotika (auch Fluspirilenspritzen, Melperon etc..), Antidepressiva, Antiepiletpika (sämtliche auch Lamotrigin), Anti Parkinson- Medikamente, .druch die Dyskinesien und die orthostatische Hypotension), Benzodiazepine und andere Schlafmittel, sämtliche Schmerzmittel, Blutdruckmittel, Diuretika, Betablocker, ACE- Hemmer, Nitrate, etc., Anticholinergika, Antidiabetika, Antiarrhythmika, Chininpräparate (Limptar etc.).. Im Zweifel sollte mit dem behandelnden Arzt geklärt werden, ob die Medikamente vorübergehend gewechselt oder abgesetzt werden können.

Differenzialdiagnose der Gangstörungen

Gangbild, Ursache Symptome andere neurologischer Befunde
Arterielle Durchblutungsstörung, Schaufensterkrankheit, Stehenbleiben müssen wegen Schmerzen nach bestimmter Gehstrecke- die im Verlauf abnimmt. die Schmerzlinderung bereits beim aufrechten Stehen bleiben ein, . meist typische Risikofaktoren (Rauchen, Hypertonus, Diabetes, Fettstoffwechselstörung, Veranlagung, es finden sich fehlende Fußpulse (können aber auch da sein bei diabetischer AVK), fehlende Besserung auf Entlastung der LWS. Im Gegensatz zum Rückenschmerz bei einem akuten Bandscheibenvorfall ist der Finger-Boden-Abstand (Bild) nicht verlängert. Neurologische Ausfallserscheinungen mit Lähmungen, Blasenstörung etc. finden sich erst in fortgeschrittenen Fällen durch die Durchblutungsstörung der Nerven.
spinale claudicatio intermittens, oder Claudicatio spinalis Durch Einengung des lumbalen Spinalkanals (Syndrom des engen Spinalkanals) ausgelöste intermittierende Gehschwierigkeit nach bestimmter Gehstrecke . in aufrechter Haltung mit Schmerzen, flüchtigen sensomotorischen Defiziten, reversibel durch Kyphosierung der LWS (Hinsetzen, Vorbeugen, Liegen mit gebeugten Beinen) In späteren Stadien persistierende sensible Defizite, Reflexausfälle und intermittierende Paresen, im Stadium 3 – persistierende, progrediente Paresen bei teilweise zurückgehenden Schmerzen. Radfahren über längere Strecken eher ist möglich als Gehen. Typisch sind Schmerzen beim Bergabgehen, Besserung beim Bergaufgehen (im Gegensatz zur Claudicatio bei AVK = arterieller Verschlusskrankheit); Treppensteigen ist meistens gut möglich beim Treppenabwärtsgehen treten dann aber Beschwerden auf. Spondylolisthesis,
Schmerzbedingte Gangstörung verminderte Standzeit auf dem betroffenen Bein, Schonhinken, schmerzbedingte Einschränkung der Gehstrecke. Je nach Lokalisation und Art der Schmerzen neurologische, orthopädische oder radiologische Diagnostik. Bessert sich bei adäquater Schmerzbehandlung.
M. Parkinson oder Parkinsonoid durch Medikamente (Akinetisch-rigide Gangstörung). Bei Lewy-Body Demenz ähnliche Gangstörung. Startschwierigkeiten, kleinschrittig,Trippelschritte, schlurfend, vornüber gebeugt, Probleme bei Schwellen fehlendes Mitschwingen eines oder beider Arme. Verbessert sich bei Stimuli wie Marschsingen, zählen, etc. Nimmt zu wenn gleichzeitig andere Aufgaben zu bewältigen sind. Gutes Ansprechend auf L-Dopa, typische Parkinsonsymptome wie Ruhetremor, Rigor, Bradykinesie, Störung der Feinmotorik, Verlangsamung, Aphonie. DD auch Multi-System-Atrophie, Striatonigrale Degeneration, Shy-Drager Syndrom, Olivopontocerebelläre Atrophie, Progressive supranukleäre Blicklähmung, Cortikobasale Degeneration bei den letztgenannten aber meist kein oder geringes Ansprechen auf L-dopa, häufig auch andere assozierte Symptome wie zerebelläre Ataxie, Autonome Störungen, Pyramidenbahnzeichen, Blickparese..
M. Binswanger, SAE – subkortikale arteriosklerotische Enzephalopathie, Multiinfarktsyndrom Kleinschrittig, breitbasig, schlurfend, Rumpf aufrecht, meist normales Mitschwingen oder Arme Blasenstörung, Verlangsamung, Dysarthrie, fokale neurologische Defizite, evtl Spastizität mit gesteigerten Reflexen, kein oder geringes Ansprechen auf Parkinsonmedikamente
Bei Demenz allgemein. Auch bei Demenz ohne fokales neurologisches Defizit wird der Gang diffus langsamer und unsicherer. Übung erhält auch hier länger die Selbstständigkeit. Abnahme der Gehgeschwindigkeit parallel zum geistigen Abbau der Patienten Um Gehen zu können müssen verschiedenste Anteile des Nervenssystems und der Muskeln gut zusammenarbeiten. Wir müssen kontinuierlich auf die Umwelt – Hindernisse- reagieren, die Wegstrecke planen, unsere Fähigkeiten abschätzen können, die Muskeln auf einander koordinieren, … Depression und Angst (vor dem Hinfallen) können gerade bei nachlassender geistiger Leistungsfähigkeit das Gehen weiter erschweren.
Zentrale Halbseitenlähmung Einseitiges Einknicken, Zirkumduktion während der Schwungphase ( Wernicke-Mann-Gangbild) Halbseitenlähmung, Spastizität mit gesteigerten Reflexen, fokale neurologische Defizite auf der Seite der Lähmung
Normaldruckhydrozephalus Apraktischer Gang, Füsse haften am Boden, Kleinschrittig, breitbasig, schlurfend, kann der Gangstörung bei arteriosklerotischer Enzephalopathie sehr ähnlich sein. Inkontinenz, Demenz, kein Ruhetremor, kein oder geringes Ansprechen auf Parkinsonmedikamente
Chorea
Huntington
bizarr bis tänzelnd unregelmäßiger, schwankender Gang zur Kompensation der choreatischen Bewegungsstürme mit unwillkürlich Bewegungen. Meist langsam und breitbasig unerwartete abrupte Bewegungen zunächst distal betont und dann generalisiert auftretend. Es folgen dystone Symptome, eine Bradykinesie; Gedächtnis- und Merkfähigkeitsstörungen; eine progressive Störung von Antrieb, Auffassung, Affekt und Denken. Meist bestehen deutliche Einbußen der exekutiven Funktionen (Konzeptbildung, Ordnung und Planung). Genetischer Nachweis. DD auch Dystonien, bei denen auch aufgabenspezifische Gangstörungen vorkommen.
Vestibuläre- Ataxie (vom Gleichgewichtsnerv ausgehend)meist akut bei Neuronitis vestibularis kann mit Hirnstamminfarkt verwechselt werden. Chronisch bei langbestehendem Morbus Menière, durch vestibulotoxische Medikamente Drehschwindel,
Abweichung zur Seite, Standunsicherheit, Verschlechterung im Dunkeln oder mit geschlossenen Augen,
im Romberg-Test gerichtete Fallneigung, , Drehen im
Unterberger-Tretversuch, Nystagmus,
Sehstörung unsicher, vorsichtiger Gang Nachweis der Sehstörung peripher (augenärztlich) oder zentral (neurologisch), zB. auch okulomotorische Störungen bei Mittelhirnläsionen oder Mononeuritiden, Hemianopsien bei Okzipitalinfarkt, …
Kleinhirn- Ataxie Erbliche Ataxien, Idiopathische zerebelläre Ataxien, toxische Genese (meistens Alkohol oder durch sedierende Medikamente) akut in der Intoxikation aber auch bleibend als Folge der Schädigung des Kleinhirnwurms durch Alkohol. Hypothyreose, Malabsorptionssyndrom Unsicherheit bei Lagewechsel, breitbasiger Gang, keine Verschlechterung im Dunkeln oder mit geschlossenen Augen, dysmetrische Zeigeversuche (Knie-Hacken- und Finger- Nase- Versuch), pathologisches Rebound-Phänomen, Dys oder Adiadochokinese, Durchführung eines Seiltänzerganges gestört
Sensorische Ataxie bei Polyneuropathie oder Schädigung der Hinterstränge des Rückenmarks durch Tumor, B12 Mangel etc. Breitbasiger Gang, Verschlechterung im Dunkeln oder mit geschlossenen Augen, Verminderte Reflexe und verminderte Tiefensensibilität bei PNP, evtl. latente Spastik bei Hinterstrangläsion. Ungerichtete Fallneigung
im Romberg-Test, Durchführung eines Seiltänzerganges gestört
Steppergang bei Fussheberparese als isolierte Lähmung des N. peroneus oder bei Polyneuropathie, L5- Läsion, Plexus lumbalis-Läsion, N. ischiadikus-Läsion, Motoneuron-Erkrankung Hängenbleiben des
Vorderfusses an Schwellen, Bordsteinen,
und Treppenstufen
Verminderte Reflexe und verminderte Tiefensensibilität bei PNP, Differenzierung durch Messung der Nervenleitgeschwindigkeiten, SSEP.

Watschelgang, bei Muskedystrohpie vom Beckengürteltyp, proximaler Myopathie, z.B. Kortisoninduzierte Myopathien allgemein, Polymyositiden bei Frauen, Myasthenien,

Schwäche beim Aufstehen vom Sitzen, Gang mit Hüft- und Schulterrotation, Schwäche der Hüftgürtelmuskulatur und der proximalen Beinmuskeln mit entsprechender Instabilität des Beckens beim Gehen. Leicht gebeugte Hüften als Ausdruck, der Hüftstreckerschwäche,verstärkte lumbale Lordose . Bei jedem Schritt wird das Becken rotiert. Trendelenburg-Zeichen, bei Muskedystrohpie entsprechende Atrophien, Familienanamense positiv, DD angeborene beidseitige Hüftluxation

Paraparese überwiegend bei Rückenmarksläsionen oberhalb L2. Z.b. spinale Tumore, großer Vorfall, epiduraler Abszess, zervikale Myelopathie, Syringomyelie, hereditäre spastische Spinalparalyse, seltene primäre Lateralsklerose. vaskuläre Myelopathien, z.B. Spinalis anterior Syndrom Multiple Sklerose,
Myelitis. Mantelkantenprozess, Paraspastik bei frühkindlicher Hirnschädigung

Gang mit in der Hüfte leicht gebeugten, adduzierten,
im Knie gestreckten und plantarflektierten Beinen führt zu einem langsamen, mühevollen
Gangbild. Beide Beine müssen zirkumduziert werden, die spastische Tonuserhöhung in der Adduktorenmuskulatur führt zum typischen Bild des
Scherengang (Überkreuzen der Beine während des Gehens)
Paraparese, Spastizität, Überkreuzen der Beine. DD besonders bei jungen Patienten bilaterale Dystonien z.B. DOPA-responsive Dystonie,
psychogene Gangstörungen bei konversionsneurotischen Störungen, anderen psychiatrischen Störungen, sekundärer Krankheitsgewinn und Simulation bizarre Präsentation; variables, inkonsistentes Muster, Nicht-physiologisches Muster; fällt selten/selten Verletzungen; Nicht typisch für bekannte Gangstörungen, abrupter Beginn; extreme Langsamkeit; ungewöhnliche und unökonomische Haltungen; übertriebene Anstrengung, plötzliches „Einknicken“ der Knie;

Krankheiten die zu Gangstörungen führen

ambulante Patienten stationäre Patienten
  • sensorisches Defizit (18%),
  • zervikale Myelopathie (16%),
  • multiple lakunäre Infarkte (15%),
  • Parkinson-Syndrom (11%),
  • zerebelläre Degeneration (11%),
  • Hydrozephalus (7%),
  • psychogene Gangstörung (3%)
  • toxischer oder metabolischer Einfluss (3%).
  • Parkinson-Syndrom (93%)
  • subkortikale arteriosklerotische Enzephalopathie (85%),
  • Motoneuronerkrankungen (83%),
  • spinale Erkrankungen,
  • psychogene Störungen (59%),
  • Multiple Sklerose (51%),
  • intrazerebrale Blutung (41%),
  • Schlaganfall (40%)
  • Schmerzsyndrome (32%).
Henning Stolze et al., Prevalence of gait disorders in hospitalized neurological patients, Movement Disorders Volume 20, Issue 1 , Pages 89 – 94, Lewis Sudarsky,Psychogenic Gait Disorders Semin Neurol 2006; 26: 351-356 DOI: 10.1055/s-2006-945523, Deema Fattal Balance and gait disorders MedLink Anke H Snijders, Bart P van de Warrenburg, Nir Giladi, Bastiaan R Bloem; Neurological gait disorders in elderly people: clinical approach and classification; Lancet Neurol 2007; 6: 63–74. H. Stolze P. Vieregge G. Deuschl, Gangstörungen in der Neurologie, Nervenarzt 2008 · 79:485–499 DOI 10.1007/s00115-007-2406-x

 

Dr. Johannes Werle

Dr. med Johannes Werle

Redakteur