Plastizität des Gehirns

Auch Neuroplastizität. Anpassungsprozesse des Gehirns unter Training oder Aktivität passen die Funktionen des Gehirns an neue Herausforderungen an, und helfen auch verloren gegangene Funktionen zu ersetzen. Die Funktionalität der Hirnrinde und auch tiefer gelegener Anteile des zentralen Nervensystems ist auf die geradezu auf ihre Plastizität oder Formbarkeit angewiesen. Nur so können wir uns an sich ändernde Umweltbedingungen anpassen. Plastizität des Gehirns schließt also auch die Fähigkeit zur Anpassung an sich ändernde Umweltbedingungen beim Gesunden mit ein, und ist die Grundlage für das Lernen. Zum großen Teil ist diese Plastizität aktivitätsabhängig oder gebrauchsabhängig. Fehlende Nutzung führt dazu, dass Funktionen verloren gehen oder Hirnareale für andere Funktionen genutzt werden. Der Ausfall von Hirnteilen und damit deren Funktion, kann durch Training der Körperfunktion kompensiert werden in dem andere Hirnrindenregionen die Funktion übernehmen. Intensives Training und intensive Nutzung von geistigen oder körperlichen Funktionen führt zur Vergrößerung der zuständigen Hirnareale und damit zu verbesserter Funktion.

Neuronale Plastizität ermöglicht dem reifenden Gehirn des Embryos oder Fötus auch sehr große Verletzungen/ Defizite auszugleichen. Schottische Forscher beschreiben ein weitgehend normal entwickeltes 10 jähriges Mädchen, dem fast die gesamt rechte Hirnhälfte fehlt. Die Funktionen dieser rechten Hirnhälfte wurden von der linken Hirnhälfte mit geringen Defiziten übernommen. Published online before print July 20, 2009, doi: 10.1073/pnas.0809688106 Die Diagnose der fehlenden rechten Hirnhälfte war bei dem Mädchen mit 3 1/2 Jahren anlässlich eines epileptischen Anfalls gestellt worden. Unter Behandlung war es lange anfallsfrei. Aus anderen Studien ist bekannt, dass epileptische Anfälle bei Kindern mit frühen Hirnschädigungen die Prognose verschlechtern, bzw. die Neuroplastizität negativ beeinflussen. Brain (2008), 131, 2975^2985. Ein anderer Faktor, der die Prognose negativ beeinflusst, ist möglicherweise das männliche Geschlecht. (Stroke. 2009;40:2012.). Bisher gibt es unzureichend Daten um eine ausreichend sichere Langzeitprognose von Kindern mit schweren Hirnschädigungen um oder vor der Geburt zu stellen. Sicher ist, dass eine entsprechende Förderung viel bewirken kann, wo die Grenzen sind ist aber offen. Vermutlich ist die Neuroplastizität und damit die Fähigkeit zur Kompensation von Hirnverletzungen auch davon abhängig welche Fertigkeiten in welchem Alter verloren gegangen sind. Es gibt hier vermutlich gerade in der kindlichen Entwicklung kritische Lebensalter in denen bestimmte Defizite sich besonders negativ auswirken oder besonders gut kompensiert werden können.


Je älter Menschen bei einer Hirnverletzung sind, umso langsamer und unvollständiger sind solche Erholungsprozesse nach einer Hirnverletzung. Aber auch das Gehirn alter Menschen knüpft neue Verbindungen/Synapsen zwischen Nervenzellen und lernt Funktionen, die durch einen Schlaganfall, eine Hirnverletzung, eine Entzündung etc. verlorengegangen sind neu. Da bei Hirnschädigungen nicht nur die Nervenzellen, sondern auch die, die komplexe Funktion der die Nervenzellen unterstützenden Astrozyten, Oligodendrozyten und Mikrogliazellen zerstört ist, gelingt ein einfache Rekonstruktion wie bei einem geschädigten peripheren Nerven nicht. Teilweise übernehmen dabei andere Hirngebiete, die zunächst verloren gegangene Funktion. Am leichtesten kann das zentrale Nervensystem Verluste einzelner Nervenfasern kompensieren, hier sprossen die benachbarten Nervenfasern aus, und versuchen die Funktion zu übernehmen. Wenn größere Hirnareale betroffen sind und Funktionen weitgehend zerstört sind, dauert die Regeneration länger, da andere Hirngebiete die Funktion übernehmen müssen. Anders als bei dem o.g. Beispiel des 10 jährigen Mädchens, das vermutlich bereits in der Embryonalperiode seine Hirnhälfte verloren hat, gelingt dies dann nicht mehr vollständig, aber meist eben doch mit guter Funktion. Training verloren gegangener Funktionen lohnt sich also in jedem Fall auch für ältere Erwachsene. In funktionellen Kernspintomograhien lässt sich dies in der Forschung sichtbar machen. Die Wiederherstellung oder Kompensation geschädigter Funktionen ist immer an ein Training gebunden.
Die Hirnrinde ist in kleine funktionelle Gebiete unterteilt, die alle spezifische Eigenschaften haben. Sie unterscheiden sich in den Zelltypen, sehr spezifischen neuronalen Netzwerken, den molekularen Expressionsmustern, neuronalen Mikroschaltkreisen, und den Verbindungen über lange Bahnen. Hierdurch sind die einzelnen Hirngebiete an ihre Funktion angepasst. Genetische und epigenetische Faktoren beeinflussen die Hirnentwicklung besonders beim Fötus und Kind, aber auch weiter beim Erwachsenen, damit diese angelegten Programme aber ihre Arbeit gut ausführen können und eine den Anlagen entsprechende Entwicklung möglich ist, benötigen wir eine fördernde und stimulierende Umgebung. Ausbildung und der Abbau von erregenden und hemmenden Synapsen werden vom Gehirn für die Speicherung erlernter Funktionen genutzt. Bestimmte Moleküle spielen eine wichtige Rolle um den Nervenzellen den Weg des Wachstums ihrer Axone, Dendriten und Synapsen zu zeigen. Geht eine Funktion verloren werden durch Aktivität oder Training der Funktion trophische Faktoren und Erkennungsmoleküle exprimiert, die neu wachsenden Synapsen und Nervenbahnen den Weg zeigen und synchronisierte elektrische Entladungen helfen bei der Zuordnung von nicht mehr repräsentierten Hirnarealen. Sowohl in visuellen als auch im somatosensorischen Systemen konnte gezeigt werden, dass die Heranreifung neuer neuronaler Schaltkreise für Tage bis Wochen nach einer sensorischen Stimulation andauert. Der Wegfall eines gewohnten sensorischen Inputs verursacht umgekehrt wieder sich über längere Zeit organisierende strukturelle Veränderungen neuronaler Schaltkreise.

Synapsen, die nicht benutzt werden sterben wieder ab, dadurch werden die Kommunikationswege schneller und effektiver. Neue Dendriten, Axone und daran Synapsen bilden sich. Das Wachsen neuer Neuriten aus denen später Axone oder Dendriten werden beginnt mit der Aktivierung von Membranrezeptoren durch extrazelluläre Schlüsselreize. Dieses Rezeptoren aktivieren eine intrazelluläre Kaskade, die Veränderungen im Aktinzytoskelet hervorruft, die die dortige Symmetrie verändern. Dann werden durch Regulation der Gentranskription, der Mikrotubuli und der Membrandynamik ausgelöst, die den neuen Neuriten stabilisieren. Hierdurch entsteht die Plastizität des Gehirns und die Möglichkeit zu lernen. Synaptische Plastizität ist damit die zellbiologische Grundlage von Lernen und Gedächtnis. Lernen wird so zu einer Substanzveränderung. Lernprozesse verstärken oder verdünnen also die synaptischen Kontakte zwischen den Zellen und lassen auf diese Weise bestimmte Netzwerke im Gehirn entstehen. Für die Entstehung einer Form von Kurzzeitgedächtnis spielt die Phosphorylierung in der Synapse eine wichtige Rolle. Für die Entstehung eines Langzeitgedächtnisses ist außerdem die Neubildung von Proteinen erforderlich, die u.a. dazu führen, dass sich Form und Funktion der Synapse ändern. Lernen, Gedächtnis, die Sprache und die Entwicklung der Persönlichkeit, haben eine ständige Neu-Verknüpfung synaptischer Verbindungen zur Grundlage. Die Funktion des Nervensystem wird durch eine komplexe sich ständig verändernde Architektur neuronaler Netzwerke bestimmt. Diese Komplexität entsteht durch die enorme dreidimensionale Verzweigtheit der einzelnen Neurone in der Entwicklung des Gehirns. Entscheidend ist dabei dass die Neurone zur rechten Zeit in die richtige Richtung wachsen und sich dort mit den richtigen zugehörigen Neuronen über Synapsen verbinden können. Es gibt entsprechend je nach Hirnregion ganz unterschiedliche Neurone mit ganz unterschiedlichen Verzweigungen (Dendriten und Axonen). Neuere Studien zeigen, dass exogen zugeführte Neurotrophine einen Antidepressiva- ähnlichen Effekt haben., Die Neurotrophinausschüttung ist umgekehrt unter der Gabe von Antidepressiva erhöht. Neurotrophine könnten so über Antidepressiva die Bildung und Stabilisierung von synaptischen Verbindungen bewirken. Über diesen Mechanismus könnten Neurotrophine für den depressionslösenden und stimmungstabilisierenden Effekt der Medikamente verantwortlich sein.

Neben dem Training einer Funktion an sich, spielen auch emotionale Faktoren (Interesse, Motivation, Antrieb, Stimmung, soziale Kontakte) und die kognitiven Fähigkeiten eines Menschen eine wesentliche Rolle für die Ausprägung der Plastizität seines Gehirns. Dies gilt sowohl für die Wiedererlangung von Fähigkeiten bei Patienten, die durch eine Krankheit oder einen Unfall Teile ihrer Hirnfunktionen eingebüßt habe, wie auch für das Lernen gesunder Menschen. Überforderung kann durch Misserfolge oder Erschöpfung demotivieren und Unterforderung langweilen. Diese mangelnde Anpassung der Lernumgebung, kann dazu führen, dass die Plastizität des Gehirns nur unzureichend genutzt werden kann. Lernen verändert das Nervensystem, unabhängig davon ob es sich um die Anpassung an die neue Berufstätigkeit oder die Physiotherapie oder Logopädie in der Rehabilitation handelt. Wenn wir neue Fertigkeiten trainieren, vergrößert sich das dafür zuständige Hirngebiet, und wir werden effizienter in dieser Fertigkeit. Wir können als Gesunde auch Fertigkeiten lernen, die uns oder der Gesellschaft schaden oder schlechte Angewohnheiten werden, auch ein falsches therapeutisches Programm in der Physiotherapie kann die Rehabilitation behindern oder ungünstige Bewegungsmuster schaffen.

 

Quellen / Literatur:

  1. Ania K. Majewska and Mriganka Sur TINS special issue: The Neural Substrates of Cognition Plasticity and specificity of cortical processing networks, TRENDS in Neurosciences Vol.29 No.6 June 2006
  2. Angela O. Ballantyne et al., Plasticity in the developing brain: intellectual, language and academic functions in children with ischaemic perinatal stroke doi:10.1093/brain/awn176 Brain (2008), 131, 2975^2985
  3. Kevin Fox,,andRachel O.L. Wong; A Comparison of Experience-Dependent Plasticity in the Visual and Somatosensory Systems Neuron, 48,3, 465-477, 3.11. 2005
  4. Merzenich et al., 1983 M.M. Merzenich, J.H. Kaas, J. Wall, R.J. Nelson, M. Sur and D. Felleman, Topographic reorganization of somatosensory cortical areas 3b and 1 in adult monkeys following restricted deafferentation, Neuroscience 8 (1983), pp. 33–55.
  5. Lars Mucklia, Marcus J. Naumer, and Wolf Singerb,Bilateral visual field maps in a patient with only one hemisphere Published online before print July 20, 2009, doi: 10.1073/pnas.0809688106
  6. Vicki Anderson et al., Childhood brain insult: can age at insult help us predict outcome?Brain 2009 132(1):45-56; doi:10.1093/brain/awn293
  7. R. Westmacott, D. MacGregor, R. Askalan, and G. deVeber Late Emergence of Cognitive Deficits After Unilateral Neonatal Stroke (Stroke. 2009;40:2012.)
  8. U. Gleissner, R. Sassen, J. Schramm, C. E. Elger, and C. Helmstaedter Greater functional recovery after temporal lobe epilepsy surgery in children Brain, December 1, 2005; 128(12): 2822 – 2829. [Abstract] [Full Text] [PDF]

  9. R. Hetherington, L. Tuff, P. Anderson, B. Miles, and G. deVeber Short-Term Intellectual Outcome After Arterial Ischemic Stroke and Sinovenous Thrombosis in Childhood and Infancy J Child Neurol, July 1, 2005; 20(7): 553 – 559. [Abstract]
  10. M. Rutter Child Psychiatric Disorder: Measures, Causal Mechanisms, and Interventions Arch Gen Psychiatry, September 1, 1997; 54(9): 785 – 789. [Abstract]
  11. I. Montour-Proulx, C. M. J. Braun, S. Daigneault, I. Rouleau, S. Kuehn, and J. Begin Predictors of Intellectual Function After a Unilateral Cortical Lesion: Study of 635 Patients From Infancy to Adulthood J Child Neurol, December 1, 2004; 19(12): 935 – 943. [Abstract]
  12. M. Rutter The Interplay of Nature, Nurture, and Developmental Influences: The Challenge Ahead for Mental Health Arch Gen Psychiatry, November 1, 2002; 59(11): 996 – 1000. [Abstract]
  13. A. M. Chilosi, P. Cipriani, B. Bertuccelli, L. Pfanner, and G. Cioni Early Cognitive and Communication Development in Children With Focal Brain Lesions J Child Neurol, May 1, 2001; 16(5): 309 – 316. [Abstract]
  14. A. M. Hogan, F. J. Kirkham, and E. B. Isaacs Intelligence After Stroke in Childhood: Review of the Literature and Suggestions for Future Research J Child Neurol, May 1, 2000; 15(5): 325 – 332. [Abstract]
  15. Peijun Li, Uwe Rudolph, Molly M. Huntsman Long-term sensory deprivation selectively rearranges functional inhibitory circuits in mouse barrel cortex PNAS 2009 106:12156-12161; published online before print July 7, 2009, doi:10.1073/pnas.0900922106 Abstract Full Text Full Text (PDF)
Dr. Johannes Werle

Dr. med Johannes Werle

Redakteur