Dissoziierte Sensibilitätsstörung

((Dissoziation= Trennung oder Aufspaltung) Bei der dissoziierten Empfindungsstörung ist nicht die gesamte Oberflächensensibilität gestört, sondern nur die Schmerz- und Temperaturempfindung bei erhaltenem Berührungsempfinden . Der Berührungssinn ist erhalten bei erloschenem Schmerz und/oder Temperatursinn auf der Gegenseite der Schädigung. Auf der anderen Köperhälfte ist allerdings dann meist auch eine Minderung des Berührungsempfindens zu finden. Ursächlich ist eine Schädigung des Tractus spinothalamicus im Rückenmarks oder Hirnstamm. Der Tractus spinothalamicus anterior und lateralis zusammen werden auch als Vorderseitenstrang bezeichnet. Dünne markhaltige Fasern die Schmerz- und Temperaturempfinden an das Gehirn weiterleiten kreuzen in der Höhe des Eingangssegmentes oder ein Segment weiter oben (also segmental) in der Commissura anterior alba zur Gegenseite. Die anderen sensiblen Rückenmarksnervenfasern (Hinterstränge zuständig für Lagesinn, Vibration, Zweipunktdiskrimination und Stereognosie =Tiefensensibilität, Berührung) kreuzen oben im Hirnstamm an der Pyramidenkreuzung zur Gegenseite, wodurch die Dissoziation zwischen Oberflächenssensibilitätstörung auf der Seite des Schadens und Störung des Schmerz- und Temperaturempfinden auf der Gegenseite zustande kommt. Eine andere Ursache ist das zentromedulläre Syndrom, bei dem ebenfalls die kreuzenden Fasern des Tractus spinothalamicus geschädigt werden, hier aber durch einen krankhaften Prozess im Bereich des Rückenmarkszentrums wie durch die Höhlenbildung bei der Syringomyelie, einem Stiftgliom oder einen Herd einer Multiple Sklerose…. In diesem Sonderfall kann die Störung der Schmerz- und Temperaturempfindung ab dem geschädigten Segment nach kaudal beidseitig sein, bei fast ungestörter Oberflächensensibilität. Meist liegen dann auch gleichzeitig vegetative Störungen vor.

Nach der dissoziierten Empfindungsstörung muss gezielt gesucht werden, da sie häufig kontralateral (auf der Gegenseite) zu motorischen Störungen lokalisiert sind und die Patienten meistens nur zufällig, z. B. bei der Verwendung von heißem Wasser, auf sie aufmerksam werden. Schwerere Verbrennungen, Erfrierungen und Verletzungen können die Folge sein, da der Patient Schmerz- und Temperaturreize auf der Seite der dissoziierten Empfindungsstörung nicht wahrnimmt. Ein Fehlen solcher Verletzungen ist bei längerem Verlauf eher ungewöhnlich. Geprüft wird das Schmerzempfinden in dem die Haut des Patienten mit einem spitzen Gegenstand berührt wird, bei bewusstlosen oder bewusstseinsgetrübten Patienten auch durch Zwicken in eine Hautfalte. Das herabgesetzte Schmerzempfinden wird auch als Hypalgesie, das erloschene Schmerzempfinden als Analgesie bezeichnet. Das Temperaturempfinden oder die Thermästhesie wird einfachsten mit dem kalten Metallteil des Reflexhammers, auch im Gegensatz z.B. zum Holzgriff geprüft. Sinnvoll ist, dass der Reflexhammer kälter ist als die Haut des Patienten. Gegenstände die Temperatur leiten, wie Metall, werden immer als kühler empfunden als Gegenstände die Temperatur schlecht leiten wie Holz oder Kunststoff. Die Temperaturempfindlichkeit kann man auch mit Hilfe zweier Reagenzgläser oder besser zweier Metallgefäße prüfen, die man mit kaltem bzw. warmem Wasser füllt. Die Temperaturunterschiede sollten nicht zu groß sein, nur so, dass sie der Untersucher in seiner Hand deutlich empfindet (warm bis 30°C kalt bis 10°C). Ein herabgesetztes Temperaturempfinden wird Thermhypästhesie, ein erloschenes Temperaturempfinden Thermanästhesie genannt. Schmerzempfinden, Temperaturempfinden und das Empfinden für starken Druck, also die Empfindungen die über den Tractus spinothalamicus geleitet werden, werden auch als protopathische Sensibilität bezeichnet.

Die dissoziierte Empfindungsstörung zeigt zuverlässig eine Erkrankung des Hirnstamms oder Rückenmarks an. Als einzige Erkrankung verursacht die Lepra Läsionen peripherer Nerven mit dissoziierter Sensibilitätsstörung. Die dissoziierte Empfindungsstörung ist meist 2 bis 3 Etagen unterhalb der Läsion beginnend nach kaudal (zu den Füßen hin) durchgängig. Ursächlich können Hirnstamminfarkte in der Medulla oblongata (z.B. Wallenberg-Syndrom = Infarkt der dosolateralen Medulla oblongata), Tumore im Rückenmark, Traumen, Punktion des Rückenmarkes bei einem ärztlichen Eingriff, Durchblutungsstörungen ( z.B. Spinalis anterior Syndrom) , infektiöse oder entzündliche Rückenmarksprozesse im Sinne einer Myelitis (viral, bakteriell, oder Pilze) sein. Postinfektiös (Herpes zoster, Herpes simplex, Cytomegalievirus, Epstein-Barr, Influenza, Echovirus, HIV, Hepatitis A, Röteln, Bakterielle Hautinfekte Otitis media, Mycoplasmen Pneumonie) oder auch ohne erkennbare Auslöser können lokalisierte Rückenmarksentzündungen als transverse Myelitis ursächlich sein. Bei Hirnstammischämien und anderen Schädigungen des unteren Hirnstamms wie beim Wallenberg- Syndrom kann die dissoziierte Empfindungsstörung auch gekreuzt auftreten, im Gesicht auf der Seite der Schädigung und am Körper auf der Gegenseite. Eine Syringomyelie oder Multiple Sklerose kann auch ursächlich sein. Oft sind andere zentrale Bahnen im Rahmen eines Brown-Séquard Syndroms mit geschädigt. Die Prognose und Behandlung hängt von der Grunderkrankung ab.

Abgrenzung des Begriffs und Verwechslungsmöglichkeiten: Der Begriff der Dissoziativen Sensibilitätsstörung meint etwas ganz anderes als der Begriff der dissoziierten Empfindungsstörung oder dissoziierten Sensibilitätsstörung. Dissoziierte Empfindungsstörungen/Sensibilitätsstörung sind rein organische Störungen, Dissoziative Sensibilitätsstörungen sind Sensibilitätsstörungen ohne organische Grundlage. Von Dissoziativen Sensibilitätsstörungen oder Empfindungsstörungen spricht man dann, wenn keine neurologische Grundlage für die gestört empfundene Sensibilität vorliegt. Meist ist bei diesen seelisch bedingten Missempfindungen die Verteilung so, dass sie sich nicht an anatomische Grenzen hält sondern laienhaften Vorstellungen entspricht. Bei entsprechender Vorbildung oder nach reichlichem googeln kann diese Unterscheidung schwieriger werden. Oft liegt bei diesen seelisch bedingten Dissoziativen Sensibilitätsstörungen ein neurologisch unwahrscheinliches Mischungsverhältnis gestörter Sinnesmodalitäten vor. Dissoziativen Sensibilitätsstörung müssen andererseits von einer Simulation einer Sensibilitätsstörung bei gutachtlichen Untersuchungen oder bei Untersuchungen zur Erlangung sozialer Vorteile abgegrenzt werden.

 

Dr. Johannes Werle

Dr. med Johannes Werle

Redakteur