Funktionelle Störung

Im ICD-10 wurde mit der „Somatoformen autonomen Funktionsstörung“ eine diagnostische Kategorie eingeführt, die in vergleichbarer Form im DSM-IV nicht enthalten ist . Wie bei der Somatisierungsstörung berichten die betroffenen Patienten auch bei dieser Störung über eine Reihe unterschiedlicher körperliche Symptome, die jedoch vorwiegend auf eine vegetative Überempfindlichkeit oder Erregung des autonomen Nervensystems zurückzuführen sind. Die körperlichen Beschwerden betreffen vor allem das Herz-Kreislauf-System (z.B. Palpitationen oder Druckgefühl in der Herzgegend), das respiratorische System (z.B. Dyspnoe oder Hyperventilation), den Gastrointestinaltrakt (z.B. Gefühl der Überblähung oder Völlegefühl) oder das Urogenitalsystem (z.B. Miktionsbeschwerden oder „Reizblase“). Die aufgeführten Beschwerden und Symptome werden im deutschsprachigen Raum oft auch unter dem Begriff der „Funktionellen Störung“ bzw. des „Funktionellen Syndroms“ zusammengefasst. Entscheidend für das Leiden ist meist nicht, dass ein Symptom empfunden wird. 86- 95% der Allgemeinbevölkerung hat mindestens ein körperliches (somatisches) Symptom in einem Zeitraum von 2-4-Wochen, der typische Erwachsene hat ein Symptom alle 4- 6 Tage, 81% der gesunden Collegestudenten haben mindestens ein somatisches Symptom während einer 3-Tagesperiode. (Med Care. 1987;25:539-69, N Engl J Med. 1961;265:885-92,N Engl J Med. 1968;279:678-9 Ann Intern Med. 1999;130:910-921.). Entscheidend ist die innere Fokussierung auf die Symptome, die oft ideologisch verfestigt wird. Mass media spielen in der Verbreitung dieser Syndrome eine große Rolle, sie berichten oft mit Übertreibungen unkritisch über diese funktionellen somatischen Syndrome. Vorläufige medizinische Hypothesen und nicht allgemein anerkannte Vermutungen zusammen mit personalisierten Berichten mit Portraits von Betroffenen werden als erwiesene medizinische Fakten dargestellt, die funktionellen somatischen Syndrome werden als sich rasch ausbreitende Epidemien, die zu schwersten Behinderungen führen dargestellt. In der Regel werden dann die Gesellschaftlichen Institutionen beschuldigt, die Störungen zu ignorieren und den Betroffenen die Annerkennung und Entschädigung zu verweigern. Solche Sensationsberichte fördern Ängste und verschlimmern die Symptome. Selbsthilfegruppen fördern den Glauben an eine organische Ursache und die Entschädigungsbegehren. Bestimmte Fachärzte und Kliniken spezialisieren sich und wittern ein gutes Geschäft. (siehe: Ann Intern Med. 1999;130:910-921.). Die Angst vor Belastungen wegen einer befürchteten Schädigung oder einer Verschlimmerung der Schmerzen führt zu einem ausgeprägten Schon- und Vermeidungsverhalten, das sich zunehmend verselbständigt und verfestigt. Entsprechend findet sich statt Eigenaktivität eine passive Haltung, die mit einer Heilungserwartung verbunden ist. Wesentlich für die Entstehung und Verfestigung einer Symptomausweitung ist ferner die soziale Verstärkung des maladaptiven Verhaltens: Dazu gehören beispielsweise eine übermäßige Medikalisierung des Problems (umfangreiche medizinische Abklärungen und Interventionen bei an sich banalen Störungen), ungeeignete medizinische Erläuterungen (z.B. «Da sieht man einen deutlichen Bandscheibenschaden im Röntgenbild.»), eine Behandlung mit vorwiegend passiven Maßnahmen und die Empfehlung andauernder Schonung und Vermeidung von Belastungen, die vermehrte Beachtung und Unterstützung der Krankenrolle, ein übermäßig behütendes Verhalten. Schweiz Med Forum 2006;6:448–454. Der sekundäre Krankheitsgewinn ist eine wesentlicher Promotor dieser Störungen. Alternativmedizinische Erklärungen schaffen in dieser Situation eine scheinbare Erleichterung. Funktionellen Störung verursachen erhebliches subjektives Leiden, und sekundäre Behinderungen mit gravierenden Kosten für die Gesellschaft. Die Beschwerden von Patienten mit funktionellen somatischen Symptomen und Syndromen wie dem Colon irritabile dem chronic fatigue Syndrom, Fibromyalgie, praemenstruellem Syndrom, MCS, Globussyndrom, atypischer nicht kardialer Brustschmerz, chronische Beckenschmerz, Hyperventilationssyndrome, sick building Syndrom, chronisches HWS- Schleudertrauma, chronische Borreliose, Nebenwirkungen von Silikonbrustimplantaten, Candidiahypersensitivität, Golfkriegssyndrom, nicht medizinisch bewiesene Allergien, übertriebene Beschäftigung mit einem leichten Mitralklappenprolaps funktionelle Hypoglykaemien etc. überlagern sich erheblich. Nach einer Übersicht im Lancet sind die Ähnlichkeiten größer als die Unterschiede. Ähnlichkeiten bestehen zwischen der Definition der Syndrom, den Symptomen, der Patientencharakteristika wie Alter, Geschlecht (Frauen überrepräsentiert), Prognose, Ansprechen auf Behandlung etc. Patienten mit einem funktionellen Syndrom erfüllen häufig gleichzeitig die diagnostischen Kriterien für ein anderes Syndroms (mit in der Regel unterschiedlicher ursächlicher Zuordnung), und sie haben die selben Symptome auch außerhalb der syndromalen Diagnose. Alle funktionellen Syndrome sprechen auf die gleiche Therapie mit stufenweisen aufgebautem körperlichem Training, antidepressive Therapie, kognitive Verhaltenstherapie an, diese Behandlungen sind in der Regel auch so in den entsprechenden Leitlinien der Fachgesellschaften genannt. Entsprechend sind nicht wenige Betroffene der Ansicht gleich an einer Vielzahl dieser Syndrome zu leiden. Psychische Störungen sind bei den Betroffenen wesentlich häufiger als bei anderen Patienten in Arztpraxen. Wessely S, Nimnuan C, Sharpe M, Functional somatic syndromes: one or many? The Lancet 1999; 354:936-939 Summary., R.von Känel Moderne Krankheiten Neue Umweltkrankheiten Fibromyalgie Chronic Fatigue Syndrom´PPT Nicht zuletzt schafft die diagnostische Zuordndung die Möglichkeit, dass jede medizinische Fachdisziplin ihre eigenen funktionellen Störungen hat, die sie mit einer eigenen Diagnose belegt. Organische Abnormalitäten fehlen bei diesen Patienten, sie haben aber klare Vorstellungen über „ihre“ Krankheit im Widerspruch zu den fehlenden wissenschaftlichen und organischen Erklärungen und sind meist gut über Selbsthilfegruppen und andere Interessengruppen vorinformiert, sie sprechen wenig auf Beruhigung an (Autoritätsverlust der Ärzte, anti-wissenschaftliche Haltung). Sie erfahren reichlich Aufmerksamkeit über die Medien. Die Patienten sind sich bezüglich ihrer Krankheitstheorien sehr sicher, sie entwerten in der Regel ärztliche Einschätzungen und epidemiologische Evidenz, die ihren Überzeugungen bezüglich der Natur ihres Syndrom entgegen steht.

 

Quellen / Literatur:

Arthur J. Barsky and Jonathan F. Borus, Functional Somatic Syndromes Ann Intern Med. 1999;130:910-921. Abstract PDF W. T Hamilton, A. M Gallagher, J. M Thomas, and P. D White The prognosis of different fatigue diagnostic labels: a longitudinal survey Fam. Pract., August 1, 2005; 22(4): 383 – 388. [Abstract] [Full Text] [PDF] F. Creed, E. Guthrie, J. Ratcliffe, L. Fernandes, C. Rigby, B. Tomenson, N. Read, and D. G. Thompson Reported Sexual Abuse Predicts Impaired Functioning but a Good Response to Psychological Treatments in Patients With Severe Irritable Bowel Syndrome Psychosom Med, May 1, 2005; 67(3): 490 – 499. [Abstract] [Full Text] [PDF] R. P. BENTALL, P. POWELL, F. J. NYE, and R. H. T. EDWARDS Predictors of response to treatment for chronic fatigue syndrome Br. J. Psychiatry, September 1, 2002; 181(3): 248 – 252. [Abstract] [Full Text] [PDF] D M Dush Breast implants and illness: a model of psychological factors Ann Rheum Dis, July 1, 2001; 60(7): 653 – 657. [Abstract] [Full Text] [PDF] R. M. Szabo and K. J. King Repetitive Stress Injury: Diagnosis or Self-Fulfilling Prophecy? J. Bone Joint Surg. Am., September 1, 2000; 82(9): 1314 – 1314. [Full Text] M. Sharpe and A. Carson „Unexplained“ Somatic Symptoms, Functional Syndromes, and Somatization: Do We Need a Paradigm Shift? Ann Intern Med, May 1, 2001; 134(9_Part_2): 926 – 930. [Abstract] [Full Text] [PDF] M. S. Smith, S. P. Martin-Herz, W. M. Womack, and J. L. Marsigan Comparative Study of Anxiety, Depression, Somatization, Functional Disability, and Illness Attribution in Adolescents With Chronic Fatigue or Migraine Pediatrics, April 1, 2003; 111(4): e376 – 381. [Abstract] [Full Text] [PDF] A. J. Barsky, R. Saintfort, M. P. Rogers, and J. F. Borus Nonspecific Medication Side Effects and the Nocebo Phenomenon JAMA, February 6, 2002; 287(5): 622 – 627. [Abstract] [Full Text] [PDF] A. R. Gold, F. Dipalo, M. S. Gold, and D. O’Hearn The Symptoms and Signs of Upper Airway Resistance Syndrome: A Link to the Functional Somatic Syndromes Chest, January 1, 2003; 123(1): 87 – 95. [Abstract] [Full Text] [PDF]L. A. Allen, J. I. Escobar, P. M. Lehrer, M. A. Gara, and R. L. Woolfolk Psychosocial Treatments for Multiple Unexplained Physical Symptoms: A Review of the Literature Psychosom Med, November 1, 2002; 64(6): 939 – 950. [Abstract] [Full Text] [PDF] S. Peters, I. Stanley, M. Rose, S. Kaney, and P. Salmon A randomized controlled trial of group aerobic exercise in primary care patients with persistent, unexplained physical symptoms Fam. Pract., December 1, 2002; 19(6): 665 – 674. [Abstract] [Full Text] [PDF]

Dr. Johannes Werle

Dr. med Johannes Werle

Redakteur