Krankheitsgewinn

In der Psychoanalyse und Sozialpsychologie gebräuchliche Unterscheidung eines inneren (primären), an das Symptom gebundenen, und eines äußeren (sekundären), sich von materiellen Gegebenheiten ableitenden Krankheitsgewinns. Im Falle eines psychischen Konfliktes ergibt die durch unbewusste Motive getragene Flucht in die Krankheit den primären Krankheitsgewinn. Aus der durch die Krankheit sozial gerechtfertigten vorübergehenden Entlassung des Patienten aus seinen Rollenverpflichtungen kann die heute allerdings umstrittene These vom sekundären Krankheitsgewinn abgeleitet werden. Viel hängt von der Definition von Krankheit ab. Wenn Krankheit einfach ein krankhafter Zustand des Körpers oder der Seele mit ist, dann ist sie uneingeschränkt schädlich und es kann keinen Profit davon geben nicht gesund zu werden. Wenn man aber Krankheit weiter fasst als einen abnormen Zustand des Körpers oder der Seele den man als Patient beeinträchtigend erlebt und nach Linderung sucht, kann die Sachlage anders sein. Solche Zustände sind bekanntermaßen oft nützliche vom Körper selbst geschaffene Schutzeffekte für den Körper. Sie sind oft der eigentliche Anlass ärztliche Hilfe zu suchen. Schmerz ist hierfür ein typisches Beispiel. Schmerz ist keine körperliche Funktionsstörung sondern eine Anpassung an eine Funktionsstörung. Schmerz soll vor weiteren Verletzungen schützen, soll dazu ermutigen sich zu schonen und Hilfe zu suchen. So unangenehm er ist bleibt er doch für den Körper nützlich – nicht so sehr als Problem als als Teil der Lösung des Problems. Dies gilt auch für eine Vielzahl anderer Symptome. Fieber bei einer Infektion hilft die Erreger zu bekämpfen. Erbrechen und Durchfall hilft die Gifte im Verdauungstrakt loszuwerden. Ähnliches gilt für rein psychische Symptome, Phobien schützen einen davor sich einer bestimmten Gefahr auszusetzen. Weinen signalisiert ein Bedürfnis nach Liebe und Zuneigung. Depressionen können vor weiteren Überforderungen schützen. usw. Wenn diese Abwehrstrategien des Körpers eine Verteidigung gegen etwas noch bedrohlicheres als das Symptom selbst sind, kann es nützlicher sein, das Symptom beizubehalten, als vorzeitig geheilt zu werden. Wenn man den Schmerz nicht mehr spürt, holt man sich leichter neue Verletzungen. Wenn man bei der Grippe Aspirin nimmt, kann es länger dauern bis sie ausheilt. Manchmal scheint es deshalb besser zu sein, wenn man sich länger schlecht fühlt. Solange es sich dabei um einen zeitlich begrenzten Vorgang handelt und keine bessere Alternative verfügbar ist, kann dies eine gesunde Lösung sein. Der Übergang zu dem, was man dann als Krankheitsgewinn bezeichnet, ist somit fließend. Obwohl die genannten Mechanismen Schutzmechanismen sind, sind sie dennoch legitimer Grund zur Klage. Diese Schutzmechanismen sollen uns gut tun, dennoch können sie leicht zur erheblichen Last werden. Dies nicht nur weil wir Schmerzen oder Fieber nicht mögen, sondern auch weil es sich eben um unangenehme Zustände handelt die auch unsere Fitness oft schwer beeinträchtigen. Schmerz schützt uns also, aber mit hohen Kosten. Biologisch gesehen, senkt er zwar das Risiko weil er dazu führt, dass wir unsere Gliedmaßen weniger bewegen, er liefert uns aber statt dessen vermehrt anderen Gefahren durch die daraus entstehende Unbeweglichkeit aus. Schlimme Schmerzen können sogar unsere Fähigkeit klar zu denken beeinträchtigen. Schmerzen machen nicht selten depressiv und hoffnungslos manchmal sogar suizidal. Bei verzweifelten Krebspatienten kann die Morphiumbehandlung durch die Behebung dieser Komplikationen lebensverlängernd sein. Fieber bei einer Infektion hilft die Erreger zu bekämpfen, aber es kann auch zu erheblichen Nebenwirkungen bis hin zu Fieberkrämpfen führen. Erbrechen und Durchfall hilft die Gifte im Verdauungstrakt loszuwerden, aber auch wichtige Nahrungsbestandteile, Wasser und Salze gehen verloren. Depressionen schützen manchmal vor Überforderungen, sie führen aber auch zu sozialem Rückzug, Interessenverlust und manchmal sogar zum Suizid. Weinen signalisiert ein Bedürfnis nach Liebe und Zuneigung, offenbart aber auch die eigene Schwäche an Konkurrenten. Insgesamt sind damit meist die Vorzüge des Symptoms bei genauer Ansicht für das Individuum eher nachteilhaft. Die diesbezügliche Abwägung kann aber selbst dann, wenn sie ganz bewusst getroffen würde eine sehr schwierige Interessenabwägung sein. Die Bereitschaft zur Aufgabe des Krankheitsgewinns oder des schützenden Symptoms, hängt davon ab, wie groß die vermutete Gefahr und die Aussicht auf eine einfache Lösung des dahinter liegenden Problems ist. Da letzteres für viele nicht durchschaubar ist, erscheint oft das Symptom die sicherere Seite. Allgemein führt alles was uns glücklicher, sicherer, erfolgreicher, satter und zufriedener macht, zu einem geringeren Gewinn durch die Symptome einer Krankheit. Alles was uns besorgt, einsam, erfolglos macht oder uns gar der Verachtung anderer ausliefert lässt das Symptom attraktiver erscheinen. Bei Verlust eines Arbeitsplatzes, der Wohnung oder eines geliebten Menschen kann das Symptom eine scheinbar bessere Lösung als die Heilung sein. Wesentlich scheint dabei der Faktor Hoffnung und Berechenbarkeit für den Verlauf zu sein. Häufige Krankheitssymptome bei amerikanische Bomberpiloten im 2. Weltkrieg in verlustreichen Staffeln sollen sich erheblich gebessert haben, als diesen auf Anraten von Psychologen mitgeteilt wurde, dass sie nach exakt 40 Einsätzen abgelöst werden. Die durchschnittliche Zahl der Einsätze war zuvor auch nicht größer aber undurchschaubar. Ähnlich waren die Ergebnisse von Versuchpersonen im Aushalten von Schmerzen z.B. durch halten von Eis in der Hand. Das wissen um die zeitliche Grenze veränderte nicht die zeitliche Grenze, wohl aber erhöhte es die Zahl derer die diese erreichten und minderte das subjektive Schmerzempfinden erheblich. Je genauer das Ende des Schmerzes bekannt ist, umso besser ist er auszuhalten und umso weniger belastend ist er subjektiver. Menschen scheinen dabei ihre Ressourcen an selbstheilenden Kräften auf die vermutete Dauer der Erkrankung einzurichten. Auch dies ist ein sinnvoller Anpassungsprozess. Humphrey führt hierfür als Beispiel an, dass eine Frau von Ihrem Arzt Tropfen erhält, von denen sie nur glaubt, dass diese ein Antibiotikum enthalten. Sollte der Körper auf diese Tropfen hin das Fieber reduzieren, so könnte es ihn zu früh der abwehrenden Kräfte des Fiebers berauben. Nicht gerechtfertigte Plazeboreaktionen können über unberechtigte Hoffnungen Schaden anrichten und müssen als biologische Fehladaptation bezeichnet werden. . Nicholas Humphrey Great Expectations: The Evolutionary Psychology of Faith-Healing and the Placebo response, Proceedings of the 27th International Congress of Psychology, 2000). . Definition des Krankheitsgewinns: objektiver, ggf. auch subjektiver Vorteil, den ein Mensch aus seiner Krankheit zieht; Krankheitsgewinn bezeichnet die intrapsychische Spannungsreduktion durch das Symptom. Nach analytischer Auffassung findet eine Triebreduktion statt, indem die psychischen Energien gegen den eigenen Köper gerichtet werden. Hysterische Blindheit verhindert, die Realität wahrzunehmen, hysterische Lähmung verhindert aggressive Handlungen vorzunehmen, durch autoaggressive Handlungen bestraft man sich selbst und kann so Schuldgefühle reduzieren. Nach psychoanalyt. Theorie ist der primäre K. u.U. mit der Entstehung der Symptomatik selbst eng verbunden, während sekundärer K. evtl. deren Persistenz fördert.sog. Flucht in die Krankheit, primärer K. z.B. durch Zuwendung u. Anteilnahme, evtl. Möglichkeit zu besserer Abwehr von Schuldgefühlen od. belastenden Verpflichtungen (, Entlastung von alltäglichen Verpflichtungen, Gewährung sozialer u. ökonom. Vorteile (sekundärer K.). bezeichnet die „Vorteile“ die der Patient durch die Krankheit hat: Enthebung von der Verantwortung, muss nicht zur Arbeit keine konflikthaften sozialen Beziehungen, der Kranke ist entschuldigt, er hat Zugang zum professionellen Medizinsystem.

 

Dr. Johannes Werle

Dr. med Johannes Werle

Redakteur