Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätssyndrom (AD/HS)

Als Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung oder Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätssyndrom (ADHS) bezeichnet man eine in der Kindheit beginnende, aber auch im Erwachsenenalter vorkommende Verhalts- und emotionale Störung. Manchmal wird hiervon das Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom (ADS), bei dem die Hyperaktivität weniger ausgeprägt ist. Die Begriffe hyperkinetische Störung oder hyperkinetisches Syndrom (HKS) werden in der Regel Synonym zum ADHS bzw. ADS verwendet.

Allgemeines

Das Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätssyndroms (AD/HS) betrifft etwa 5% der Kinder (manche meinen auch wesentlich mehr), möglicherweise auch 1-4% der Erwachsenen. Es wird aber bei Erwachsenen nur sehr selten diagnostiziert und noch seltener behandelt. 

Die Häufigkeitsangaben (Prävalenz) zum AD/HS und ADS wechseln aufgrund unterschiedlicher Studienkriterien bzw. unterschiedlicher Berücksichtigung des unaufmerksamen Typus zwischen 1,7% und 17.8%, wobei die Symptomatik bei einem hohen Anteil der Betroffenen bis in das Erwachsenenalter andauern kann.

Während im Kindesalter das Geschlechtsverhältnis männlich/weiblich bei 3 : 1 bis 2 : 1 liegt, werden in Prävalenzstudien im Erwachsenenalter annähernd gleiche Geschlechtsverteilungen beschrieben. Neuere Studien legen allerdings nahe, dass das Geschlechterverhältnis bei Kindern auch 1:1 ist, allerdings Jungen häufiger zur Behandlung gebracht werden als Mädchen. 

Unter den Erwachsenen, die mit der Störung behandelt werden, waren in einer Studie in den USA nur 25% bereits als Kinder wegen ADS behandelt worden. Mehr als die Hälfte hatte zuvor an andere Stelle gegenüber Ärzten oder Psychologen über die Symptome von ADS geklagt, ohne dass die Diagnose gestellt worden war Psychiater stellten die Diagnose öfter als Allgemeinmediziner und behandelten auch deutlich häufiger medikamentös (Faraone et al. 2004). 

Ursachen und Risikofaktoren des AD/HS

Das AD/HS weist eine hohe genetische Prädisposition auf, wobei Zusammenhänge mit Veränderungen der Noradrenalin- und Dopamintransporter-und -rezeptorgene diskutiert werden. ADHS wird nach der aktuellen Literatur nicht durch ein einziges Gen, sondern wahrscheinlich durch etwa 50 verschiedene Gene bedingt. Dabei handelt es sich überwiegend um Enzyme, die an der Signalübertragung zwischen Nervenzellen durch so genannte Neurotransmitter beteiligt sind. Genauer ausgedrückt um Enzyme, die Funktionen im Neurotransmitterstoffwechsel haben und die für Neurotransmittertransporter und Neurotransmitterrezeptoren kodieren.

Enstprechend vielfältig sind die Symptome und die begleitenden anderen psychischen Störungen. Umgekehrt bedeutet dies auch, dass die Erkrankung nicht notwendigerweise wie bei einem dominanten Erbgang von den Eltern auf die Kinder weitergegeben wird.

Neben den genetischen Ursachen scheinen auch äußere schädliche Einflüsse wie das Rauchen der Mütter in der Schwangerschaft und die Frühgeburtlichkeit eine ursächliche Rolle zu spielen. (möglicherweise eine der Erklärungen für eine Zunahme der Häufigkeit (Linnet et al. 2003).

Niedriges Geburtsgewicht und vorzeitige Geburt (Frühgeborene) vergrößert das Risiko. Kinder die in oder vor der 34. Woche geboren werden haben ein fast 3-fach erhöhtes Risiko, Kinder die zum errechneten Geburtszeitpunkt geboren werden aber ein Geburtsgewicht von zwischen 1500 und 2499 Gramm haben haben ein um 90% erhöhtes Risiko, Kinder mit einem Geburtsgewicht von zwischen 2500 und 2999 noch ein 50% erhöhtes Risiko, verglichen mit Kindern von 3kg und mehr (Linnet et al. 2006).

Trotz genetischer Einflüsse scheint auch das Erziehungsverhalten eine Rolle zu spielen. Negativ wirken sich das Erziehungsverhalten insbesondere raue Bestrafungen durch die Mutter, nicht durchschaubare Bestrafung von Regelverletzungen durch die Mutter, geringer Ausdruck von mütterlicher Zuwendung, wenig mütterliche Erwartungen an und Förderung der Bildung des Nachwuchses, geringe Zeit die die Mütter ihren Kindern widmen, Schuldgefühle als wesentliches mütterliches Erziehungsmittel um das Verhalten des Kindes zu kontrollieren, geringe Aufsicht des Vaters und der Mutter, schlechte Kommunikation der Mutter oder des Vaters mit dem Kind aus. Auch hoher Fernsehkonsum bei Kleinkindern erhöht das Risiko (Johnson et al. 2006).

Unter Berücksichtigung des unaufmerksamen Typus des ADS, der etwa doppelt so häufig wie der klassische hyperkinetische Typ ist, sind bis zu 10% der Schulkinder therapiebedürftig. Etwa 80% der Betroffenen mit therapierelevanten Symptomen sprechend auf eine Stimulanzientherapie an.

ADS führt nicht nur zu schlechten Schulleistungen. Konflikte in den Familien, eine erhöhte Rate von Unfällen jeder Art mit schwereren Verletzungen, die spätere Entwicklung von Persönlichkeitsstörungen und Süchten führen zu vielen erheblichen Spätfolgen.

Symptome und Krankheitsbild

Neuropsychologisch gesehen handelt es sich bei ADS und ADHS überwiegend um eine Störung der exekutiven Funktionen,  die nach klassischer Vorstellug im vorderen Hirnlappen oder Frontallappen lokalisiert sind. Wesentlicher ist allerdings eine Störung in der Zusammenarbeit verschiedener Hirngebiete, wobei der Frontallappen eine wichtige Rolle spiel. Funktionelle Kernspintomographien zeigen eine Störung von Regelkreisen zwischen dem Frontallappen, den Basalganglien, dem Balken, und dem Kleinhirn.

Symptomatisch gemeint ist damit eine Störung des 

  1. Arbeitsgedächtnisses mit der Fähigkeit geistige oder vorgestellte Objekte im Kopf zu behalten und dort diese zu verändern. Damit auch die Fähigkeit mentale Objekte mit ihrer Geschichte und Zukunft in die Zeit eingebettet zu ordnen. 
  2. Der Regulation von Affekten(Gefühlen) und Arousal, hierdurch kann der Affekt vom Antwortverhalten getrennt werden, es wird die Möglichkeit eröffnet „vernünftig“ zu handeln. 
  3. Der Internalisation von Sprache (oder des verbalen Arbeitsgedächtnisses) ermöglicht eine bewusste innere verbale Beschreibung und Reflexion die eine Selfinstruktion möglich macht. Hierdurch kann man seinen eigenen Regeln oder den Regeln Anderer oder der Gesellschaft folgen
  4. Der Herstellung eines Verhaltensplans, der es einer Person ermöglicht eine kreative Antwort auf eine Situation zu finden, die aus dem eigenen Verhaltensrepertoire ausgewählt wird.

Wesentlich für die Funktion des exekutiven Systems ist, dass (beim Gesunden) zunächst die quasi instinkthafte gefühlsmäßige Verhaltensantwort im Sinne eines automatischen Reflexes auf eine gefühlsmäßige Wahrnehmung gehemmt wird. Diese Hemmung des direkten Anwortverhaltens verhindert, dass nicht relevante Ablenkungen unser Verhalten bestimmen. Hierdurch wird es auch möglich, trotz Pausen den Faden wieder aufzunehmen ohne den Fokus unserer Aufmerksamkeit zu verlieren. Diese Hemmung des direkten Anwortverhaltens bedeutet, dass wir uns sagen könne: Halt inne, seh hin, hör zu, überlege bevor du handelst. Hierdurch wird zielgerichtetes Lernen und Handeln möglich.

Es handelt sich bei ADS und ADHS damit nicht nur um eine Störung der Aufmerksamkeit, sondern um eine Störung in der Verarbeitung des Wahrgenommenen die zu fehlerhaftem Verhalten oder zu Fehlverhalten führt.

Besonders der unaufmerksame Typ mit verminderter Daueraufmerksamkeitsspanne, verstärkter Ablenkbarkeit und leichter Erschöpfbarkeit, Tagträumereien und Desorganisation bleibt häufig unerkannt.

Typische Merkmale der betroffenen Kinder: 

  • geringes Selbstwertgefühl
  • aufbrausend, ängstlich, oft in Raufereien verwickelt
  • traurig, depressiv
  • Wutanfälle, herrisch, ärgerlich
  • Schuld- und Reuegefühle
  • hänselt andere Kinder
  • ungehorsam, rebellisch
  • leicht zu irritieren
  • Verlust der Selbstkontrolle
  • folgt immer anderen
  • Tendenz, unvernünftig zu sein
  • unaufmerksam
  • Schwierigkeiten mit Autoritäten
  • ruhelos
  • Schwierigkeiten, den Standpunkt anderer zu sehen
  • Schulschwierigkeiten/Lernprobleme
  • langsamer Leser, Klassen wiederholt, langsames Lesenlernen, vom Unterricht suspendiert
  • Buchstaben verdrehen
  • Bettnässen
  • Probleme mit dem Buchstabieren
  • Ärger mit der Polizei
  • schlechter Schüler, Möglichkeiten nicht ausgeschöpft
  • kein Spaß beim Lesen
  • Tendenz zur Unreife

Diagnostische Hinweise der AD(H)S bis zum Vorschulalter I 
Schwangerschaft Risikofaktoren, Stress, ungewöhnlich starke Kindsbewegungen.
Säuglingsalter Niedriges Geburtsgewicht. Verstärkte Unruhe, erhöhte Reizbarkeit, „Schreibabies“, massive Schlafstörungen, Fütterstörungen. Aber: SS und Säuglingsalter können auch unauffällig verlaufen („pflegeleicht“). Herkunft der Mutter aus zerrütteten Verhältnissen, Delinquenz des Vaters, vernachlässigendes Verhalten der Eltern im Säuglingsalter.
Kleinkindalter Motorische Unruhe ab Laufalter („Seitdem er läuft, läuft er weg“).
Kindergartenalter Spielstörungen (Impulsivität, mangelnde Ausdauer, häufiger Wechsel von Aktivitäten, massive Probleme bei Regelspielen, Gruppenaktivitäten, aggressives Verhalten).
Vorschulalter Mangelnde soziale Kompetenzen, Vollbild der ADHS.
Nach:
U. KNÖLKER Diagnostische Probleme bei Aufmerksamkeitsstörungen mit und ohne Hyperaktivität AD(H)S Neuropädiatrie in Klinik und Praxis 3. Jg. (2004) Nr. 1 
Esser G, Fischer S, Wyschkon A, Laucht M, Schmidt M: Vorboten hyperkinetischer Störungen – Früherkennung bereits im Säuglingsalter möglich? Zeitschrift für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie 2007; 35(3): 179–88.

Bei Kindern resultieren oft schlechte Schulleistungen, schlechtere Schulabschlüsse und schlechtere Berufsaussichten,   Kontaktschwierigkeiten, vermehrte Unfälle, Gesetzesübertretungen, Angststörungen und andere emotionale Schwierigkeiten, vermehrte Streitereien mit den Eltern. Da diesen Schwierigkeiten oft auch andere und gleichzeitig vorhandene psychische Störungen zu Grunde liegen, ist die Unterscheidung oft schwierig, welche Störung jetzt welche Folgen hat. 

ADHS bei Erwachsenen

Ein nicht unerheblicher Anteil von hyperkinetischen Kindern hat auch im Erwachsenenalter erhebliche psychische Probleme. Dabei handelt es sich zum einen um Sekundärstörungen wie Suchterkrankungen, affektive Störungen (überwiegend Depressionen) und Persönlichkeitsstörungen. Andererseits scheint bei einem Teil der im Kindesalter Betroffenen ein hyperkinetisches Residuum fortzubestehen (Barkley et al. 1990).   

Kinder mit ADHS haben im Vergleich zu gesunden Kindern eine relativ dünnere Hirnrinde in den Hirnregionen, die für die Aufmerksamkeitskontrolle wichtig sind. Kinder die langfristig schlechter abschneiden korrigieren dies nicht, insbesondere der linke mediale präfrontale Cortex bleibt verdünnt, bei den Kindern die im späteren Verlauf oder als Erwachsene die Störung kompensieren, erfolgt eine kompensatorische Verdickung der Hirnrinde rechts parietal (Johnson et al. 2006).

Erwachsene Betroffene haben insbesondere in Ausbildung und Studium erhebliche Probleme. So tendieren sie etwa als Studenten dazu, nach kurzer Zeit intensiven Lernens aufzustehen und einige Minuten herumzulaufen, das Anhören längerer Vorträge ist quälend, häufig werden die nicht gleich am Anfang vermittelten Inhalte nur unvollständig erfasst.

Die „Lesefaulheit“ von Erwachsenen mit überdurchschnittlicher Intelligenz und Bildung kann Ausdruck einer persistierenden Teilleistungsstörung in Form einer Legasthenie sein oder lässt auf so starke Konzentrationsstörungen infolge eines hyperkinetischen Syndroms schließen, dass selbst beim Lesen der Tageszeitung nur als ein Überfliegen der Überschriften erfolgt.

Die Beeinträchtigung der Aufmerksamkeit kann zu erheblichen Spannungen innerhalb der persönlichen Beziehungen führen, da es den Betroffenen oftmals nicht möglich ist, ihren Partnern über längere Zeit konzentriert und ruhig zuzuhören, wenn diese über ihre Probleme sprechen möchten. Es liegt nahe, dass ein solches Verhalten dann als „Kommunikationsstörung“ psychotherapeutisch angegangen, die effiziente medikamentöse Behandlung aber wegen fehlenden Wissens des Therapeuten um dieses Krankheitsbild häufig versäumt wird.

Bei Personen, von denen gesagt wird, sie seien ständig mit ihren Gedanken woanders, besteht prinzipiell der Verdacht auf das Vorliegen eines hyperkinetischen Syndroms.

Auch im Erwachsenenalter werden Entscheidungen von ADHS-Patienten oft ohne vorherige differenzierte Überlegungen gefällt. Überdurchschnittlich häufig kündigt der Hyperaktive seine Arbeitsstelle, wechselt die Partnerschaften.

Dies mag ein Grund dafür sein, warum relativ viele Patienten mit hyperkinetischen Syndromen aus Scheidungsfamilien kommen – sind die Kinder dann ebenfalls von der Störung betroffen, hat dies kausal aber nichts mit der Scheidung der Eltern zu tun, sondern mit der genetischen Fixierung der Erkrankung.

Unordnung und chaotische Organisation im beruflichen wie privaten Bereich ist das Charakteristikum des hyperkinetischen Syndroms beim Erwachsenen. Aus dem unaufgeräumten Kinderzimmer des betroffenen Kindes und Jugendlichen wird die chaotische Wohnung, aus dem unordentlichen Schulpult der Schreibtisch mit mehreren Lagen aufeinander getürmter Papiere und Bücher. Begonnene Arbeiten werden nicht zu Ende gebracht.

Typisch für Betroffene ist zudem häufiges Liegenlassen von Gegenständen wie Schlüsseln, Taschen und Kleidungsstücken und Vergessen der Ausführung von Aufträgen. Betroffene fühlen sich unwohl, wenn sie längere Zeit ruhig sitzen bleiben müssen, generell bestehen Probleme, sich zu entspannen. Eine extreme Qual stellt etwa eine durch Krankheit oder Verletzung erzwungene längere Bettlägerigkeit dar, als sehr unangenehm werden Langstreckenflüge empfunden. Viele Betroffene fühlen sich nur dann wohl, wenn sie sich ständig körperlich betätigen; sie gehen nicht langsam spazieren, sondern sind stets schnellen Schrittes unterwegs.

Typisch für ein im Erwachsenenalter persistierendes HKS sind sich ständig wiederholende Fußbewegungen in hoher Frequenz, entweder als Wippen mit dem Fuß bei übereinander geschlagenen Beinen oder als ständiges Klappen mit den Füßen auf dem Boden im Sitzen. Gehäuft finden sich auch entsprechende motorische Phänomene an den oberen Extremitäten in Form eines ständigen Trommelns mit den Fingern auf dem Tisch oder wiederholten Handbewegungen.

Was spricht für ein ADHS beim Erwachsenen?

  • Typische Merkmale der Störung bereits im Grundschulalter (Zeugnisse ansehen, Eltern befragen)
  • Desorganisation, Unfähigkeit Dinge zu Ende zu führen
  • Motorische Hyperaktivität: Unruhe, unruhiger Schlaf 
  • Aufmerksamkeits-Defizite: Unfähigkeit sich auf Geschriebenes zu konzentrieren, Tagträumen 
  • „Heißes Temperament“: Ausraster, Kontrollverlust 
  • Antisoziales Verhalten und Probleme mit Polizei und Gerichten  
  • Vermehrt Autounfälle und Strafzettel wegen Verkehrsvergehen 
  • Eheproblem, geringerer beruflicher Erfolg als erwartet
  • Häufiges Verlieren und Verlegen von Sachen, Vergessen von Verabredungen
  • immer aktiv und unruhig, schlechte Laune wenn inaktiv. 
  • Impulsiv:  Spricht ohne nachzudenken, Mangel an Selbstkontrolle 
  • Stress- Intoleranz: Sich überwältigt fühlen
  • Oppositionelles Verhalten gegenüber Autoritätspersonen

Diagnostik beim Erwachsenen

Wenn man die Diagnose ADHS bei einem Erwachsenen stellt, werden retrospektiv die Symptome der Kindheit und des Jugendalters beurteilt, was naturgemäß schwieriger ist als diese bei einem Kind direkt zu beobachten. Besonders die Tatsache, dass die meisten Betroffenen bei Diagnosestellung bereits mehrere Selbsthilferatgeber studiert haben, erschwert die sichere Diagnose. Ausgeschlossen werden müssen vor allem manische Zustände und Persönlichkeitsstörungen, die leicht mit der ADHS verwechselt werden können.

Bei der Diagnostik des ADHS bei Erwachsenen kann die „Wender Utah Rating Scale“ eingesetzt werden. Jedoch gibt diese beim Erwachsenen lediglich einen Hinweis auf das Vorliegen der Störung, andere Differenzialdiagnosen müssen bedacht werden.

Wender Utah Rating Scale

Als Kind im Alter zwischen 6 und 10 Jahren war ich (oder hatte ich)  
nicht oder 
ganz gering=0,  , 
gering=1,mäßig=2, deutlich=3stark ausgeprägt=4
1. Konzentrationsprobleme, leicht ablenkbar     
2. ängstlich, besorgt     
3. nervös, zappelig     
4. unaufmerksam, verträumt     
5. rasch wütend, aufbrausend     
6. Wutanfälle, Gefühlsausbrüche     
7. geringes Durchhaltevermögen (Abbrechen von Tätigkeiten vor deren Beendigung)     
8. hartnäckig, willensstark     
9. oft traurig, depressiv, unglücklich     
10. ungehorsam, rebellisch, aufsässig     
11. geringes Selbstwertgefühl, niedrige Selbsteinschätzung     
12. leicht zu irritieren     
13. starke Stimmungsschwankungen     
14. häufig ärgerlich     
15. impulsiv (Handeln ohne nachzudenken)     
16. Tendenz zu Unreife     
17. häufige Schuld- und Reuegefühle     
18. Verlust der Selbstkontrolle     
19. Neigung zu unvernünftigen Handlungen     
20. Probleme mit anderen Kindern (keine langen Freundschaften, schlechtes Auskommen mit anderen Kindern)     
21. Unfähigkeit, Dinge vom Standpunkt des Anderen aus zu betrachten     
22. Probleme mit Autoritäten (Ärger in der Schule mit den Lehrern, Vorladungen beim Schuldirektor)     
23. insgesamt mäßiger Schüler mit langsamem Lerntempo     
24. Probleme mit Zahlen und Rechnen     
25. meine Möglichkeiten nicht ausgeschöpft     
 Gesamtscore (Summe)     

Die erreichbare Punktzahl liegt bei 0-100 Punkten. Üblicherweise wird ein Cut-off-Wert von 46 Punkten verwendet, ab dem das Ergebnis beim Erwachsenen Hinweise auf das Vorliegen eines ADHS gibt.

Diffenzialdiagnosen und Komorbidität – „was es sonst sein könnte“

Die Unterscheidung zu anderen psychischen Störungen ist bei Erwachsenen nicht immer einfach. Wegen der Neigung zu depressiven Verstimmungen, und Reizbarkeit sowie allgemeiner Labilität ist besonders eine Verwechslung mit Bipolaren Störungen, Manie, und der Zyklothymie sowie der Borderline Persönlichkeitsstörung möglich. 

Bei bipolaren Störungen, Manie, und der Zyklothymie dauern die Stimmungsschwankungen in der Regel Wochen oder Monate, bei ADHS wechselt die Stimmung eher von Tag zu Tag. Depressive Personönlichkeitszüge sind bei ADHS meist eher leichter Natur.

Borderline Persönlichkeitsstörung haben einige Symptome gemeinsam mit ADHS, sie neigen zu Impulsivität, affektiver Instabilität, Wutausbrüchen, und Gefühlen von Langeweile. Die Impulsivität bei ADHS ist aber typischerweise kurzdauernd und gedankenlos, dabei weniger getrieben.  Auch die Wut bei ADHS ist meist kurzdauernd und episodisch, im Gegensatz zu der häufig anhaltenden Wut von Borderlinepatienten. ADHS Patienten haben weniger die für Borderline Persönlichkeitsstörungen typischen intensiven aber kurzen und konfliktreichen Beziehungen, sie sind seltener suizidal, sie neigen weniger zu Selbstverletzungsverhalten, Identitätsstörungen und Verlassenheitsgefühlen.

Selten kann auch eine Verwechslung mit einer Schizophrenie möglich sein. Die genannten Erkrankungen sollten bei der Diagnose eines ADHS oder ADS definitiv ausgeschlossen worden sein.

ADHD Diffenzialdiagnosen und Komorbidität – was es sonst sein könnte
Seh- und HörstörungenAbsence- Epilepsie 
Schädel- Hirn- Trauma /Enzephalitis/ Chorea Minor, andere Hirnschäden, degenerative HirnerkrankungenAngstkrankheiten
SchlafmangelDepression /Manie
Vernachlässigung/ Misshandlung /zerrüttete, chaotische Familien Tourette- Störung
Medikamenten NW / Drogen/ SchwermetallvergiftungFragiles X Syndrom
Schilddrüsenüberfunktionfetales Alkoholsyndrom
Mangelernährung/ HypoglykämiePhenyketonurie
Posttraumatische BelastungsstörungPersönlichkeitsstörung
Intelligenzmangel/geistiger Behinderungisolierte Lese- Rechtschreibschwäche
SchizophrenieHirntumor
Reyesyndrom 

Folgen des ADHS beim Erwachsenen

Häufige Folgen einer ADHD bei Erwachsenen sind:

Persönliche Probleme
– Schlechte Konzentration. Häufiges Verlieren von Sachen (z.B.: Autoschlüssel, Werkzeug….)
– Schlechte akademische Leistungen und Abschlüsse. oft Schulabbrecher
– Schlechte Karrierechancen 
– Beziehungs- bzw. Ehe-Instabilität

Arbeitsplatzprobleme
– Niedriger Verdienst. Nicht häufiger arbeitslos aber schlechter Job.
– Ruhelosigkeit Schwierigkeiten mit Schreibtischjobs
– Schwierigkeiten zuzuhören und Anweisungen zu verstehen. 
– Oppositionelles Verhalten gegenüber Autoritätspersonen
– Verlust von Jobs wegen schlechter Leistungen und Aufmerksamkeits- und Organisationsproblemen. Einige kündigen wegen Langeweile 

Psychiatrische Probleme
– Angst und Stimmungsschwankungen, Depression, erhöhtes Suchtrisiko 
– Hohe Rate von Substanzmissbrauch, besonders Alkohol und Kokain 
– Persönlichkeitsstörungen
– Antisoziales Verhalten und Probleme mit Polizei und Gerichten  
– Vermehrt Autounfälle und Strafzettel wegen Verkehrsvergehen 

Behandlung des ADHS

Aus der klinischen Diagnose einer Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) leitet sich weder im Kindesalter, noch im Erwachsenenalter automatisch eine Behandlungsnotwendigkeit ab. 

Es wird empfohlen, eine Behandlung dann zu beginnen, wenn – nach Durchführung einer vollständigen psychiatrischen Längs- und Querschnittuntersuchung – eindeutig durch ADHS verursachte krankheitswertige Symptome bestehen, ausgeprägte Störungen in mindestens einem Lebensbereich oder weniger ausgeprägte Störungen im mehreren Lebensbereichen.  

Allgemein wird ein multimodales Behandlungskonzept empfohlen, das sowohl eine medikamentöse, als auch eine psychotherapeutische Behandlung der Kinder und psychoedukative Maßnahmen bezüglich der Eltern umfasst. Die meisten empirischen Studien belegen eine bessere Wirksamkeit der multimodalen Behandlung im Vergleich zu einer ausschließlichen Behandlung mit Stimulantien wie Methylphenidat (Ritalin).

Eine alleinige psychotherapeutische Behandlung beseitigt die Symptome nicht. Die multimodale Therapie unter Einsatz von Medikamenten wie Methylphenidat ist dieser deutlich überlegen.

Oft stimmen erwachsene Patienten mit einer hyperkinetischen Störung einer medikamentösen Behandlung zunächst nicht zu, da sie sich eine Änderung ihres Verhaltens durch eine Medikation nicht vorstellen können. Lehnt der Patient eine medikamentöse Therapie ab, sollte man ihn zunächst psychotherapeutische und/oder verhaltenstherapeutische Maßnahmen wahrnehmen lassen, ihm dann aber – falls sich die geklagten Symptome nicht zufriedenstellend zurückbilden (was wahrscheinlich ist) – anbieten, sich jederzeit zur probatorischen medikamentösen Behandlung wieder vorstellen zu können.

Unbehandelt sind langfristig bei HKS durchaus erhebliche psychiatrische Folgeerkrankungen zu befürchten. Persönlichkeitsstörungen entwickeln sich leider nicht selten. Bei Jungen vor allem auch Störungen des Sozialverhaltens mit Delinquenz. Kinder mit HKS beginnen im Durchschnitt früher mit einem Alkoholkonsum und haben besonders wenn Persönlichkeitsstörungen dazu kommen ein höheres Suchtrisiko.

Medikamentöse Therapie

Zur medikamentösen Therapie werden bei Kindern wie Erwachsenen in erster Linie die Stimulantien wie Methylphenidat (Ritalin) 20 -50 mg und bei unzureichender Wirkung von Methylphenidat auch Amphetamin (Attentin, Elvanse) eingesetzt. Die Medikamente haben als „Aufputschmittel“ , die diese speziellen Patienten aber beruhigen, allerdings ein durchaus erhebliches Nebenwirkungsrisiko, die Behandlung bedarf auf jeden Fall einer fachärztlichen Überwachung.

Die Medikamente wirken überwiegend dadurch, dass sie das verfügbare extrazelluläre Dopamin in speziellen Bereichen des Gehirns (Striatum und Hirnrindengebiete) erhöhen.

Die Wirkung auf den Dopaminspiegel führt auch zu einer Wirkung auf das Hirnbelohnungssystem, die für die mögliche Suchtgefahr verantwortlich ist. Andere Gründe für eine Sucht können die allgemein leistungssteigernde Wirkung und die Gewichtsabnahme sein. Bei bestimmungsgemäßem Gebrauch unter fachärztlicher Überwachung ist das Abhängigkeitsrisiko allerdings sehr gering.

Nebenwirkungen von Methylphenidat (Ritalin) und anderen Stimulantien

Stimulantien: Nebenwirkungen und Umgang mit diesen
Appetitminderung– Medikament zu den Mahlzeiten nehmen
– Hochkalorische Ernährung oder Getränke am Abend, nach Nachlassen der Wirkung
– Kein Zwang beim Essen
Amphetamine– Amphetamine haben ein höheres Abhängigkeits- und Missbrauchsrisiko als Methylphenidat, auch das Risiko körperlicher Komplikationen ist größer.
– Sie werden in Deutschland im Gegensatz zu den USA selten eingesetzt – und dies sollte auch so bleiben.
Bauchschmerzen
Schlaflosigkeit
– Kleine und dafür häufiger Mahlzeiten 
– Schlafhygiene (Regelmäßigkeit, Bettgehzeiten, Ruhe im Schlafzimmer etc.) überprüfen
– Die letzte Dosis am Nachmittag überprüfen
– Übergang zu retardierten Medikamenten
– Einschlafrituale wie Vorlesen überprüfen. 
– Eventuell zusätzlich trizyklische Antidepressiva mit schlafanstoßender Wirkung
Traurigkeit– Dosis vermindern
– Übergang zu retardierten Medikamenten
– Übergang zu einem anderen Medikament
– Antidepressiva statt Stimulantien erwägen
Verstärkte Symptome
bei abklingender Wirkung (Reboundeffekt) 
 
– Übergang zu retardierten Medikamenten
– Überlappende Dosierung
– Kombination von sofort wirkenden mit retardierten Medikamenten
– Zusätzliche Antidepressiva erwägen
Reizbarkeit– Überprüfung ob die Diagnose stimmt, ob es sich um Komorbidität mit einer anderen psychischen Störung handelt (z.b. Borderline Persönlichkeit, Bipolare Störung,..) oder ob es eine Medikamentennebenwirkung ist.
– Eventuell die Dosierung reduzieren, nachdem geklärt ist, ob es sich um  eine Überdosierung oder verstärkte Symptome bei abklingender Wirkung handelt.
Angst– Langsame Eindosierung
– Verringerung der Dosierung
– Antidepressivum statt Stimulans, oder ein solches hinzugeben.
– Ggf. auch bei vorübergehenden Symptomen im Rahmen der Eindosierung kurzzeitig (für 10 Tage) zusätzliches Benzodiazepin erwägen.
Halluzinationen– Halluzinationen können eine Nebenwirkung sein, Absetzen der ADHS-Medikation ist die adäquateste Behandlung, die in jedem Fall vor der Gabe zusätzlicher Medikamente steht.
– Das Langzeitrisiko einer Psychose unter ADHS-Medikation ist geringfügig erhöht, liegt aber nur im Promille-Bereich. Unter Amphetamin ist es etwas höher als unter Methylphenidat (Moran et al. 2019).
– Auch andere psychotische Symptome einschließlich Manien können (in sehr seltenen Fällen) durch die Medikamente ausgelöst werden. 
Herzkreislaufnebenwirkungen– Möglicherweise erhöhen alle ADHS-Medikamente die Herzkreislaufrisiken, einschließlich plötzlicher Todesfälle.
– Die Überprüfung des Blutdrucks unter Behandlung ist in jedem Fall indiziert, bei bestehendem Hochdruck ist die Gabe nur bei strenger Indikation und unter engmaschiger Kontrolle des Blutdrucks und ggf. Anpassung der Blutdruckmedikation möglich.
– Durchschnittlich steigt der Blutdruck unter Stimulantien nach Studien um 2-4 mmHg, die Herzfrequenz um 3-6/min, individuell kann diese Wirkung aber wesentlich größer sein.
– Mögliche Komplikationen sind Schlaganfall, Herzinfarkt und Herzrhythmusstörungen.
– Bei den beobachteten sehr seltenen Todesfällen lagen meist Risikofaktoren vor.
– Alle Stimulantien können als Dopingmittel missbraucht werden. Sie vermindern die gesunde und normale Müdigkeit, dies gilt insbesondere bei Überdosierung. Auf Missbrauch muss deshalb auch bei sportlich besonders ehrgeizigen Menschen geachtet werden, über das Risiko bei extremer köperlicher Belastung muss aufgeklärt werden.
Abhängigkeitsrisiko– 15%–25% der Erwachsenen mit eine Abhängigkeit von Medikamenten oder Alkohol haben ADS, 21% der Kokainabhängigen haben nach einer Studie ADS.
– Suchterkrankungen habe also eine hohe Komorbidität mit ADS. Besonders bei diesen Patienten ist auch bei der medikamentösen Behandlung ein Abhängigkeitsrisiko zu berücksichtigen.
– Eine Behandlung mit Antidepressiva kann hier vorteilhafter sein als Methylphenidat.
– Retardierte Methylphenidat- Präparate haben ein deutlich niedrigeres Missbrauchsrisiko. Auch und gerade weil direkt nach der Einnahme die subjektive Wirkung weniger spürbar ist.
– Auch wenn Abhängigkeit mehr die Amphetamine betrifft, kann auch Methylphenidat besonders bei hochdosierter Verwendung zu Gewöhnung und psychischer Abhängigkeit führen.
– Die Behandlung mit Methylphenidat erhöht aber nicht das Risiko einer Substanzabhängigkeit bei ADHS-Patienten ohne vorherige Abhängigkeitsproblematik.
Anhaltende und schmerzhafte Erektionen (Priapismus)– Können als Entzugsyndrom besonders bei den retardierten Formen morgens auftreten.
– Männliche Jugendliche sollten auf diese meist sehr schmerzhafte und unter umständen gefährliche Nebenwirkung hingewiesen werden.
– Ggf. Dosisreduktion oder ausschleichen.
Dopingkontrollen– Im Sport sind alle Stimulantien bei Wettkämpfen generell verboten, Dies gilt somit auch für den Gebrauch von Methylphenidat.
– Gemäß den Richtlinien der Welt-Anti-Doping-Organisation (WADA) besteht die eng umschriebene Möglichkeit, Sondergenehmigungen für verbotene Substanzen zu erlangen. Gefordert wird hier unter anderem eine sorgfältige und umfassende Diagnosestellung, fehlende therapeutische Alternativen sowie kein zusätzlicher zu erwartender Leistungsgewinn gegenüber gesunden Sportlern.
Tics oder das Tourette- Syndrom – Sind eine relative Kontraindikation, da sich Tics oder das Tourette- Syndrom unter Methyphenidat verstärken können.
– Hier muss im individuelle Fall zusammen mit dem behandelnden Arzt abgewogen werden, ob und wie eine medikamentöse Therapie des ADHS gestaltet werden kann.
Epileptische Anfälle– Stimulantien können epileptische Anfälle auslösen.
– Dies ist am häufigsten so, wenn bereits eine Epilepsie bekannt ist oder sich im EEG Zeichen einer erhöhten Anfallsbereitschaft finden.
– Eine EEG- Ableitung vor Beginn der Behandlung ist deshalb sinnvoll.
– Bei Auftreten von Anfällen sollten die Stimulantien abgesetzt werden. 
Modifiziert und ergänzt nach:
– Recognizing and Treating ADHD in Adolescents and Adults, U.S. Pharmacist 2005
– FDA Infopage ADHS

Alternativen zu Methylphenidat und Amphetamin

Alternativ werden vor allem bei Erwachsenen auch Antidepressiva eingesetzt; Studien zeigen für verschiedene Antidepressive eine gute Wirksamkeit. Eine Therapie mit Antidepressive bietet sich selbsterklärend insbesondere dann an, wenn gleichzeitig mit der hyperkinetischen Störung auch eine depressive Störung vorliegt.

Weniger gesichert sind die Ergebnisse mit Betarezeptorenblockern wie, Propanolol und Nadolol.