Münchhausen Syndrom

Die Forschung zu diesem Thema ist schwierig, da in den meisten Ländern die Patienten eine Strafverfolgung oder zivilrechtliche juristische Konsequenzen zu befürchten haben und entsprechend wenig gewillt sind, nach Diagnose an weiter in einer Studie mit zu arbeiten. Die Literatur stützt sich deshalb überwiegend aus allerdings sehr zahlreiche Fallberichte. Asher 1951und Menninger 1934 sprachen von einer “polychirurgischen Abhängigkeit” also einer Neigung unnötige chirurgische Eingriffe zu provozieren.

Diagnose nach ICD 10

F68.1 Artifizielle Störung [absichtliches Erzeugen oder Vortäuschen von körperlichen oder psychischen Symptomen oder Behinderungen]
Der betroffene Patient täuscht Symptome wiederholt ohne einleuchtenden Grund vor und kann sich sogar, um Symptome oder klinische Zeichen hervorzurufen, absichtlich selbst beschädigen. Die Motivation ist unklar, vermutlich besteht das Ziel, die Krankenrolle einzunehmen. Die Störung ist oft mit deutlichen Persönlichkeits- und Beziehungsstörungen kombiniert.
Durch Institutionen wandernder Patient [peregrinating patient]
Hospital-hopper-Syndrom
Münchhausen-Syndrom
Exkl.: Dermatitis factitia
Vortäuschung von Krankheit (mit offensichtlicher Motivation)

DSM IV Vorgetäuschte Störungen

1. Diagnostische Kriterien:
A: absichtliches Erzeugen oder Vortäuschen körperlicher oder psychischer Symptome
B: Motivation für Verhalten liegt in Einnahme der Krankenrolle (= psychisches Bedürfnis)
C: es gibt keine äußeren Anreize für Verhalten (meist offensichtlich) wie:
– ökonomischer Nutzen
– Vermeidung von legaler Verantwortung
– Verbesserung des körperlichen Wohlbefindens

2. Prinzipielle geäusserte/ beobachtbare Symptome und Differentialdiagnose als Kombination der aufgezeigten Einzelsymptome:
Vier verschiedene Möglichkeiten grundsätzlich: ganz erfunden; selbst erzeugt und real vorhanden Übertreibung oder Verschlimmerung eines bestehenden medizinischen KHF (Krankheitsfaktors); Kombination oder Variation der 3 vorher genannten Symptome; Vortrag der Krankengeschichte mit großem dramatischen Geschick; befragt nach Einzelheiten geben Patienten nur vage und unbestimmte Äußerungen von sich; pathologische Lügen (Pseudologia phantastica); häufig haben diese Patienten ausgezeichnete Kenntnisse bzgl. medizinischer Termini und Klinikroutinen – häufiges Klagen über Schmerzen und Forderung nach Analgetika; Unterstützung der Symptomerzeugung evtl. durch Einnahmen von: Stimulantien -> Ruhe- und Schlaflosigkeit; Halluzinogenen -> veränderter Wahrnehmungszustand; Analgetika -> Euphorie; Hypnotika -> Lethargie; bei Klinikaufenthalt oft destruktives Verhalten auf der Station (Diskussion/ Regelverstösse); z.T. Verhaltensweisen nur, wenn sich Patient beobachtet fühlt
– näherungsweise richtiges Fragenbeantworten (z.B. 8×8=65); wechselhafter klinischer Verlauf mit Komplikationen/ neuen pathologischen Erscheinungen); konsequent vielfältige invasive Untersuchungen/ Operationen; hier mögliches auffälliges Indiz: „Grillrost-Unterbauch“!!!; Ziel der Patienten: intensive Behandlung und damit Aufmerksamkeit zu erhalten; wenn keine Änderung der Hauptbeschwerden erfolgt, werden weitere Symptome erzeugt; hier gute Überführungsmöglichkeit!!! (Bsp. „Würger von L.A.)

Verhalten der Patienten bei Konfrontation mit „Vortäuschungs-Vermutung“: extreme Abwehr und fluchtartiges Verlassen der Klinik (auch gegen ärztlichen Rat); meist kurze Zeit später Einweisung in die nächste Klinik; dies führt oft zu iatrogen verursachten KHF hier gute Diagnosemöglichkeit!!! („Münchhausen-Syndrom“); Auffälligkeiten im sozialen Kontext: Verhinderung stabiler Arbeitssituationen; Verhinderung stabiler familiärer Bindungen und Beziehungen; mögliche prädisponierende Faktoren: psychische Störung/ medizinischer KHF in Kindheit/ Adoleszenz, die zu intensiven Behandlungen/ Klinikaufenthalten führten; Groll gegen Mediziner oder sehr wichtige Beziehung zu einem/r Arzt/Ärztin in der Vergangenheit; Beschäftigung im medizinischen Bereich
Vorliegen einer Persönlichkeitsstörung;

3. Subtypen:

300.16 (F 68.1) Vorgetäuschte Störung mit vorwiegend psychischen Zeichen und Symptomen: Vortäuschung psychischer/ psychotischer Störungen, Ziel: Einnehmen der Krankenrolle ;häufig keine Übereinstimmung mit typischem Syndrom der entsprechenden Krankheit; ungewöhnlicher Verlauf; unübliches Ansprechen auf Behandlung oder Verschlechterung der Symptomatik (wenn Person sich beobachtet fühlt); „Symptomdarbietung“ erfolgt entsprechend der Vorstellung des Betroffenen von psychischen Störungen (d.h., sie muss nicht mit der diagnostischen Kategorie übereinstimmen); Verhalten des Patienten kann wie folgt gekennzeichnet sein: äußerst suggestibel Bestätigung vieler Symptome negativistisch unkooperativ Beispiele: Angabe von Depressionen/ suizidalen Gedanken nach angeblichem Tod des Ehepartners (Befragung von Familienmitgliedern bestätigen die Aussage über Tod nicht); Amnesie bzgl. zurückliegender Ereignisse, Halluzinationen dissoziative Symptome

300.19 (F 68.1) Vorgetäuschte Störung mit vorwiegend körperlichen Zeichen und Symptomen
Symptome entsprechen scheinbarem medizinischen KHF, mögliche Substanzabhängigkeit aufgrund Sedativa/ Analgetika,
„Münchhausen-Syndrom“ (Kliniktourismus)

häufige klinische Bilder: heftige Schmerzen im rechten unteren Quadranten des Bauches mit Erbrechen und Übelkeit, Benommenheit und Ohnmacht, -massive Hämoptyse, generalisierte Hautausschläge und Abszesse, Fieber unbestimmter Genese Blutungen nach Einnahme von Antikoagulantien und „lupusähnliche“ Syndrome, prinzipiell alle Organsysteme für „Symptomauswahl“ möglich (entsprechend den medizinischen Kenntnissen/ Vorstellungskraft und Spitzfindigkeit des Betroffenen)

DSM-IV-TR Diagnostische Kriterien für „factitious disorder“
A. Intentional production or feigning of physical or psychological signs or symptoms.
B. The motivation for the behavior is to assume the sick role.
C. External incentives for the behavior (such as economic gain, avoiding legal responsibility, or improving physical well-being, as in Malingering) are absent.
Code based on type:
300.16 With Predominantly Psychological Signs and Symptoms: if psychological signs and symptoms predominate in the clinical presentation
300.19 With Predominantly Physical Signs and Symptoms: if physical signs and symptoms predominate in the clinical presentation
300.19 With Combined Psychological and Physical Signs and Symptoms: if both psychological and physical signs and symptoms are present but neither predominates in the clinical presentation

factitious disorder not otherwise specified
This category includes disorders with factitious symptoms that do not meet the criteria for factitious disorder. An example is factitious disorder by proxy: the intentional production or feigning of physical or psychological signs or symptoms in another person who is under the individual’s care for the purpose of indirectly assuming the sick role.

Gemeint ist ein absichtliches Erzeugen oder Vortäuschen von körperlichen oder psychischen Symptomen oder Behinderungen . Wo der Übergang zum Stellen dieser Diagnose ist kann manchmal schwierig sein, Grenzbereiche werden erkennbar, wenn man bedenkt, dass nach einer Untersuchung bis zu 40% der schlecht einstellbaren Diabetiker zugeben aktiv die Diabeteseinstellung zu hintertreiben. Bei Fehlen einer gesicherten körperlichen oder psychischen Störung, Krankheit oder Behinderung täuscht der Patient bewusst wiederholt und beständig Symptome vor. Dabei kann es auch zu selbstverletzenden Verhaltensweisen in Form von Schnittverletzungen und anderen Selbstbeschädigungen kommen. Dies kann soweit gehen, dass sich die betreffende Person selbst Schnittverletzungen oder Schürfwunden zufügt, um Blutungen zu erzeugen oder sich selbst toxische Substanzen injiziert. Gemeint sind Patienten, die ihrem Arzt fälschlicherweise Krankheitssymptome berichten und wissen, dass sie ihn hiermit täuschen, und Patienten, die ihren Körper selbst verletzen oder schädigen, um das Bild einer Erkrankung zu vermitteln, oder die in Kauf nehmen, dass ihnen im Zuge nicht indizierter diagnostischer und therapeutischer Maßnahmen iatrogen Schaden zugefügt wird. Die zur Täuschung angewendeten Methoden sind ausgesprochen vielfältig und phantasiereich, sie werden deshalb häufig nicht durchschaut. Schwere Krankheiten in der Kindheit begünstigen die Entwicklung der Störung- die Betroffenen scheinen die Krankenrolle erlernt zu haben und positiv zu bewerten. Ein sekundärer Krankheitsgewinn mit Entlastung von Verantwortung scheint nicht selten ein Rolle zu spielen. Eine traumatisierende frühe Biographie mit emotional depravierenden Heimaufenthalten, hoch konflikthaftem häuslichem Milieu, körperlichem und sexuellem Missbrauch, frühen Objektverlusten, prägenden Krankheitserfahrungen ist häufig. Meist vielschichtige aktuelle Auslösesituationen. Es handelt sich hier um Menschen – vor allem Männer – die mit erfundenen, zum Teil abenteuerlichen Krankheitsgeschichten in Krankenhäuser kommen, um sich behandeln zu lassen. Sie weisen oft erstaunliche medizinische Kenntnisse auf, ändern schnell Symptome und brechen bei Zweifeln an ihrer Krankheit die Behandlung ab und wenden sich den nächsten ÄrztInnen oder Krankenhäusern zu. Bezeichnenderweise ist der englische Begriff für diese Krankheit „Doctor Shopping“. Plassmann berichtet von einer „völlig chaotischen“ Kindheit der Betroffenen, häufig kämen Beziehungsabbrüche zu Primärobjekten, Kindesmisshandlung und Inzest vor. Es handelt sich um eine Störung im Umgang mit Krankheit und der Krankenrolle, wobei die Betroffenen meist deutliche Symptome einer ganzen Reihe anderer Störungen ihrer Persönlichkeit und ihrer Beziehungen aufweisen. Das autoaggressives Verhalten weist auf eine schwerere psychische Störung hin, eine solche muss aber nicht immer zugrunde liegen. Die meisten Betroffenen leben aber ein sonst normales Leben. Hänsli fasst folgendes Symptomtrias zusammen: 1. das Erfinden, Verschlimmern und Erzeugen von Krankheitssymptomen (aus einer inneren Notwendigkeit), um die Krankenrolle und Hospitalisation zu erlangen 2. das geschickte, tendenziell hochstaplerische Erzählen von erklärenden Geschichten mit falschem Namen und Biographien (Pseudologia fantastica), sowie 3. das Aufsuchen immer neuer Behandlungseinrichtungen, besonders während der Nachtzeit.

Häufige Symptome in der Reihenfolge der Häufigkeit: Unerklärtes Fieber (dort sollen es 2-10% der Patienten mit dem Symptom sein), Wundheilungsstörung, Blutungen (Anämie), Diffuse dramatische Schmerzen, Neurologische Syndrome „Notfall“ (z.B. Lähmung), Vorgabe einer schweren Erkrankung (z.B. Karzinom), Verstümmelung (als Unfall kaschiert), Hypoglykämie, Blutdruckkrise, Mydriasis, Aus 196 Fällen zwischen 1996 und 1999 wurden folgende Symptome und Diagnosen gesammelt: Akromegalie, Gastrointestinale Blutung, Zahnfleisch und Kieferverletzungen, akutes respiratory distress Syndrom, Ständige Eiterung nach arthroskopischem Eingriff, Bartter’s Syndrom, Hämoptysis, Pheochromozytom, chronische Blepharokeratokonjunktivitis, HIV- Erkrankung, Brustkrebs, Hypertensive Krise, Purpura, Verbrennungen, Hypokalzämie, Quadriplegie, Cervicofaziale subkutane Emphyseme, verschiedenste Infektionskrankheiten, Ausschläge, Cheilitis, Intraalveoläre pulmonale Siderophagen, Rektorrhagie, Bindegewebserkrankung, Lymphödeme, M. Sudeck, Cushing- Syndrom, Malaria, Nierenkolik, Blindheit, Taubheit, Krebs verschiedener Art, Epilepsie, Dermatosen, Akute Attacken der Sichelzellanämie, Diabetes mellitus, Methämoglobinemie, Thrombozytopenie, Diphenhydraminvergiftung, Handverletzungen, Harnleiterstein, Dpilopie, Nekrotisierende Fasziitis, vaginale Blutung, Epidermolysis bullosa simplex, Orbitales Emphysem. Wenn psychische Störungen vorrangig sind dies häufig Amnesien, Halluzinationen, Wahn, Hypersomnie, Bipolare Störungen, Schmerzsstörungen, Kognitive Beeinträchtigungen, Paraphilien, Depressionen, Posttraumatische Belastungsstörungen, Dissoziative Identitätsstörungen, Substanz- induzierte Störungen, Essstörungen, Transsexualität.

1. Die Störung schützt das Selbstwertgefühl und erlaubt, mögliches Scheitern auf Krankheiten zu schieben.
2. Die Patienten erfahren eine Aufwertung ihres Selbstwertgefühls durch den Kontakt mit bekannten Ärzten und Kliniken.
3. Die Störung gibt ihnen eine Möglichkeit sich als heroisch und tapfer oder als medizinisch bewandert und „kompetent“ zu zeigen. Die Gesellschaft sieht Menschen mit einer definierten organischen Erkrankung als sympathischer an als Menschen mit sozialen oder psychischen Problemen, es ist leichter allgemein Unterstützung zu erhalten. Durch seltene Erkrankungen fühlen sie sich zusätzlich aufgewertet.

Die Zeitschrift Psychosomatics publiziert im Januar 2007 einen Fallbericht einer 23-jährigen Frau. Diese wurde in einer gynäkologischen Abteilung aufgenommen und berichtete, dass sie vor kurzem in einer anderen Klinik an einem Karzinom der Eierstöcke operiert worden war. Auch in der Familie habe es mehrere Ovarialkarzinome gegeben. Sie gab an 15 kg an Gewicht verloren zu haben und diverse Bauchbeschwerden zu haben. Bei der Untersuchung wurde eine Verdickung im angespannten, angeschwollenen, druckschmerzhaften Bauchraum getastet. Die Patientin hatte einen Arztbrief der vorbehandelnden Klinik bei sich. In diesem wurde eine detailierte Krankengeschichte berichtet, mit Op- Bericht, pathologischem Befund und Empfehlungen für die Weiterbehandlung und ein neues Staging. Beim bauchchirurgischen Eingriff fand sich dann ein Normalbefund. Die Eingabe von Textpassagen des Arztbriefes bei Google führte zu einem Internetforum bei dem man sich eine zweite Meinung einholen konnte. Dort fand sich wörtlich der Arztbrief, den die Patientin offensichtlich kopiert, bezüglich der Personendaten gefälscht und mitgebracht hatte. Mit kopierten Krankheiten aus dem Internet muss man sicherlich zukünftig häufiger rechnen. Das Internet ist allerdings für phantasiebegabte Menschen nicht die einzige Möglichkeit sich relevante Vorbefunde zu besorgen. Eine seit über einem Jahr im Rollstuhl sitzende Patientin berichtete beispielsweise anlässlich einer gutachtlichen Untersuchung, dass sie seit 14 Monaten nach einem Unfall eine Querschnittslähmung habe. Sie hatte auch ein entsprechendes Attest einer neurologischen Praxis dabei. Direkt nach dem Unfall sei sie in einer neurologischen Universitätsklinik ambulant untersucht und nach hause entlassen worden. Eine Nachfrage dort ergab, dass dort keine neurologische Untersuchung stattgefunden hatte. Eine Nachfrage in der Praxis, die das Attest ausgestellt hatte ergab, dass die Patientin dort nur zur Erlangung des Attestes mit der selben Vorgeschichte vorstellig war. Dreistigkeit alleine reicht für den Erhalt aussagekräftiger Atteste und Arztbriefe also durchaus aus. In einer dänischen Untersuchung sollen 56 Patienten mit somatoformen Symptomen für 3% aller nicht psychiatrischen Krankenhausaufenthalte verantwortlich gewesen sein. Verursachte Kosten sind oft bei einzelne Patienten sehr hoch, in den USA schätzt man sie auf über 100 000 Dollar pro Patient oder über 20 Milliarden Dollar pro Jahr. Sowohl die eigenen Manipulationen als auch die unnötigen ärztlichen Eingriffe bergen ein erhebliches Risiko für sekundäre Erkrankungen und Todesfälle unter den Betroffenen. Umgekehrt können Erfahrungen mit diesen Patienten Ärzte dazu verleiten beispielsweise MS- Patienten oder Lupus eryth. Patienten zu verdächtigen eine solches Münchhausensyndrom zu haben und dazu führen, dass diese nicht ernst genommen werden

Die Behandlung ist schwierig. Das Verhalten zielt auf den primären Kranheitsgewinn, die Einnahme der Krankenrolle. Jede medizinisch körperliche Behandlung chronifiziert die vorhandenen Probleme und Symptome der Patienten. Die Gefahr der schwerwiegenden Verstümmelung besteht nicht nur durch die Manipulationen der Patienten an ihrem Körper, sondern auch in der Provokation medizinischer Eingriffe durch den jeweiligen behandelnden Arzt. Verhindert werden kann dies meist nicht, bei drohender Enttarnung wechseln sie die Behandler oder Krankenhäuser. Nur sehr selten lassen sich zu einer Psychotherapie überreden. Da in den meisten Ländern die Patienten eine Strafverfolgung oder zivilrechtliche juristische Konsequenzen zu befürchten haben, verlassen sie oft sofort nach „Enttarnung“ den Behandlungsort. Entsprechend ist es strittig ob eine direkte Konfrontation sinnvoll ist. Manchmal soll eine Fokussierung auf das zu Grunde liegende psychische oder soziale Problem gelingen. Erschwert ist die Behandlung durch den verständlicherweise bei den betroffenen Ärzten entstehenden Ärger. „Die Patienten bleiben süchtig abhängig von Aufmerksamkeit, Interesse und Anerkennung, die sie für ihre erfundenen oder manipulierten Krankheiten jeweils nur kurz bekommen und nach Diagnosestellung wieder verlieren. Die bei tatsächlich Kranken sinnvolle medizinische Aufklärung und die Laienverfügbarkeit von verständlichen medizinischen Informationen erleichtert den Betroffenen die Simulation einer Krankheit und macht sie schwerer diagnostizierbar, die Möglichkeiten einer Simulation einer Erkrankung sind aber weiter für medizinisch vorgebildete Personen besonders gut. Der Fantasie sind dabei keine Grenzen gesetzt, Manipulationen am eigenen Körper, dem Körper von anvertrauten Personen oder die Manipulation von Blutproben wurden auf verschiedenste Weise in der Literatur beschrieben. Eine Vielzahl von hochwirksamen Medikamenten wurde zur Simulation einer körperlichen Erkrankung missbraucht. Es gibt fast keine Krankheit, keine Medikamentennebenwirkung und kein Syndrom, das nicht auch simuliert worden ist. Manchmal folgen solche Selbstverletzungen auch medizinischen Eingriffen. Bizarrste Situationen sind hierbei schon berichtet worden. Beispielsweise in einer Veröffentlichung 2 Patienten, die nach einer neurochirurgischen Gehirnoperation selbst ihre Schädelwunden wieder öffneten um weiter die Krankenrolle wieder einzunehmen. (Neurosurgery. 2004 Dec;55(6):1436) Dabei wurden in manchen Fällen auch gravierendste Selbstverletzungen in Kauf genommen. In einer Serie von 93 Patienten mit dieser Störung waren bei den Frauen 66% in der Ausbildung zu Berufen im Gesundheitswesen oder im Gesundheitswesen tätig. (Am J Psychiatry 160:1163-1168, June 2003) Die meisten Betroffenen leben ein sonst normales Leben. Oft besteht dabei eine hohe Bereitschaft, sich ständigen unangenehmen, ggf. schmerzhaften Untersuchungen bzw. Eingriffen zu unterziehen; häufig besteht eine erhöhte Schmerztoleranz. Eines der nicht seltenen extremen Beispiele ist eine 73 jährige Frau die 3 mal Unfälle mit Augenverletzungen vortäuschte und sich dabei im Ergebnis eine vollständige Erblindung zuzog. (Eur J Ophthalmol. 2006 Jul-Aug;16(4):654-6.). Es gibt zahlreiche andere Berichte über die Zufügung anderer weniger dramatischer Verletzungen am Auge. Selbst Berichte über eine aufwendige und gefährliche Chemotherapie vorgetäuschter Krebserkrankungen kommen vor. (J Surg Oncol. 1994 Jun;56(2):136-8.). Auch psychische Störungen werden nicht ganz selten vorgetäuscht, bis hin zur Vertäuschung von psychotischen Mordaufforderungen durch „Stimmen“ aus unterschiedlichen Gründen. Auch die nicht ganz seltene Vortäuschung einer Demenz bei alten Patienten wird berichtet. (Int J Geriatr Psychiatry. 2004 Oct;19(10):961-7). Ein Arbeiter der tatsächlich einer Bleiexposition ausgesetzt waren führte sich selbst zur Vortäuschung einer schweren Schädigung eine Bleivergiftung zu. (Br J Clin Pharmacol. 2003 Dec;56(6):695-6). Vorgetäuscht werden mannigfaltige physische Symptome oder Erkrankungen. Ursächlich liegen der Erkrankung schwere Störungen der zwischenmenschlichen Beziehungen sowie schwere Persönlichkeitsstörungen mit histrionischen, dissozialen und narzisstischen Zügen zugrunde. Nur ein sehr geringer Teil der Patienten gesteht auch bei eindeutigem medizinischem Sachverhalt die Störung bzw. das häufige Manipulieren von Befunden oder am eigenen Körper ein. Drohungen mit Prozessen sind häufig. Eine Konfrontation mit der Diagnose wird deshalb vermutlich nur sehr selten zu einer Besserung führen. Möglicherweise führt eine solche Konfrontation doch über längere Zeit zu einem Symptomwechsel. Ich habe vor kurzem eine Frau ebenfalls mit 2 medizinischen Berufen gutachtlich untersucht, die ebenfalls an einer artifiziellen Störung litt. Diese Frau hatte über Jahre eine unklare Anämie mit Hb- Werten um 7- der in diesem Fall dann ausschlaggebend für eine Berentung war. Als im Rahmen einer früheren Begutachtung eine artifizielle Ursache dieser Anämie vermutet worden war, normalisierte sich der Hb-Wert vor 6 Jahren anhaltend bis heute. Allerdings sind stattdessen andere Symptome an die Stelle der Anämie getreten. Letztlich ist es schon als ärztlicher Erfolg bei solchen Störungen anzusehen, wenn vermieden wird unnötige gefährliche ärztliche Eingriffe durchzuführen, weitere Selbstverletzungen in der Akutsituation zu vermeiden und aggressive Reaktionen des Betroffenen auf eine korrekte Diagnose zu minimieren. Eine Information der zuständigen Krankenversicherung, Rentenversicherung etc. erscheint vor diesem Hintergrund sinnvoll um einer Selbst- und Fremdschädigung vorzubeugen.

 

Quellen / Literatur:

Menninger K: Polysurgery and polysurgical addiction. Psychoanal Q 4:173–199, 1934, Reich P, Gottfried LA. Factitious disorders in a teaching hospital. Ann Intern Med 1983; 99: 240-47. [PubMed] Asher R: Munchausen’s syndrome. Lancet 1:339–341, 1951, Powell R, Boast N. The million dollar man. Br J Psychiatry 1993; 162: 253-56. [PubMed] Asher R. Munchausen’s syndrome. Lancet 1951; 1: 339-41. [PubMed] Menninger KA. Polysurgery and polysurgical addiction. Psychoanal Q 1934; 3: 883-89. [PubMed] 7 Fink P, Jensen J. Clinical characteristics of the Munchausen syndrome. Psychother Psychosom 1989; 52: 164-71. [PubMed] American Psychiatric Association: Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, 4th Edition, Text Revision. Washington, DC, American Psychiatric Association, 2000, p. 517. American Psychiatric Association. Brian A. Fallon, M.D. Suzanne Feinstein, Ph.D.; Review of Psychiatry, No3, 2001 American Psychiatric Publishing, Inc. Reinhard Plassmann, S. 666, Psychosomatische Medizin.

Am J Psychiatry 2003 160: 1163-1168 Abstract] [Full Text] [PDF], C. R. FEHNEL and E. J. BREWER Munchausen’s Syndrome With 20-Year Follow-Up Am J Psychiatry, March 1, 2006; 163(3): 547 – 547. [Full Text] [PDF], D T Stephenson and J R Price Medically unexplained physical symptoms in emergency medicine. Emerg. Med. J., August 1, 2006; 23(8): 595 – 600. [Abstract] [Full Text] [PDF] J. A. Libow Child and Adolescent Illness Falsification Pediatrics, February 1, 2000; 105(2): 336 – 342. [Abstract] [Full Text] H. Schreier Munchausen by Proxy Defined Pediatrics, November 1, 2002; 110(5): 985 – 988. [Full Text] [PDF]

Dr. Johannes Werle

Dr. med Johannes Werle

Redakteur