Sotos- Syndrom

Sotos et al. beschrieben 1964 fünf Kinder mit von Geburt an beschleunigtem Körperwachstum, charakteristischen craniofazialen Besonderheiten, einem gegenüber dem Lebensalter fortgeschrittenem Knochenalter und einer deutlichen Verlangsamung der motorischen, kognitiven und sprachlichen Entwicklung. Seitdem wurden mehr als 200 solcher Einzelfälle beschrieben. Als Synonym wird zum Teil auch der Begriff „cerebraler Gigantismus“ genannt. Neben diesen Hauptkriterien liegen noch viele weitere klinische Befunde vor. Ein biologischer Marker ist noch nicht bekannt, somit liegen auch keine zuverlässigen Prävalenzangaben vor. Cole& Hughes haben die gegenwärtig umfangreichste und differenzierteste Untersuchung über die klinischen Merkmale und den Entwicklungsverlauf beim Sotos- Syndrom vorgelegt. Als diagnostische Merkmale beim Sotos- Syndrom haben sich in ihrer Untersuchung folgende herausgestellt: – charakteristische Gestalt des Gesichts (lange Gesichtsgestalt, vorgewölbte, hohe Stirn, prominentes Kind, Hypertelorismus, antimongoloide Lidfalte und hoher Gaumenbogen) – weit überdurchschnittliche Körperlänge bei Geburt und in der Kindheit (> p97) – weit überdurchschnittlicher Kopfumfang (> p97) – vorzeitiges Knochenwachstum – Entwicklungsretardierung Die körperlichen Merkmale, so hat die Untersuchung festgestellt, sind im frühen Kindesalter ausgeprägter als später. So verläuft zum Beispiel die Wachstumskurve vor allem in den ersten fünf Lebensjahren beschleunigt, bis sie im Rahmen der Pubertät wieder in den Normalbereich abfällt. Bei den meisten Patienten findet sich eine hypotone Bewegungsstörung im ersten Lebensjahr. Die motorischen Fähigkeiten werden verspätet erlangt, das freie Laufen z. B. im Durchschnitt zwischen 19 und 21 Monaten. Die Pathogenese des Sotos- Syndroms ist bis heute ungeklärt. Biochemische und endokrinologische Studien haben widersprüchliche Ergebnis erbracht. In den vergangenen Jahren wurde von chromosomalen Auffälligkeiten bei Patienten mit Sotos- Syndrom berichtet, z. B. von Bruchpunkten am X- Chromosom (u. a. Fryns, 1984). Wie es sich jedoch herausstellte, handelte es sich bei diesen Patienten um ein vom Sotos- Syndrom abzugrenzendes Syndrom. Das Sotos- Syndrom tritt als Spontanmutation auf. Es sind einige Fälle mit autosomal dominanten Erbgang bekannt (Winship, 1985) und ebenso eine Konkordanz bei eineiigen Zwillingen und ein wiederholtes Auftreten in der Geschwisterreihe. (Z. B Hook& Reynolds, 1967, Boman & Nilson, 1980) Die Diagnosen dieser Fälle stellen jedoch eine Ausnahme dar, außerdem handelt es sich hierbei um Ausnahmen. Kognitive, sprachliche und adaptive Entwicklung Die Erstbeschreiber berichteten, dass die geistige Behinderung das wesentliche „Merkmal“ des Sotos- Syndroms sei. Diese Sichtweise wurde inzwischen revidiert. Die vorherrschende Meinung heutzutage ist, dass die intellektuelle Kapazität von Kindern mit dem Sotos- Syndrom sehr variabel ist. Zuverlässige Aussagen über das Entwicklungsspektrum von Kindern mit dem Sotos- Syndrom stellen sich aus zwei Gründen sehr schwierig dar: Erstens sind die Untersuchungsstichproben in der Regel klein und hinsichtlich des Alters inhomogen. Zweitens handelt es sich um klinische Gruppen, die nicht repräsentativ sind. Das kommt daher, weil zur psychologischen Untersuchung selektiv mehr Kinder angemeldet werden, deren Lernfähigkeit beeinträchtigt ist. Deshalb ist es sehr schwierig, Aussagen über die kognitive Entwicklung bei Kindern mit dem Sotos- Syndrom zu machen. Trotzdem gibt es einige Untersuchungen hierzu, in denen Intelligenztests durchgeführt wurden. Zum einen kann man aus diesen Untersuchungen schließen, dass es tatsächlich sehr große Diskrepanzen im intellektuellen Niveau innerhalb der Gruppe der Kinder mit dem Sotos- Syndrom gibt, (Clarke et al. 1991, Cole& Hughes 1994, Erfahrungen des Autors). Zum anderen gibt es das Ergebnis aus den Untersuchungen von Rutter&Cole (1991) und Cole&Hughes (1994), dass bei vielen Kindern beträchtliche Diskrepanzen der Werte von Verbal- und Handlungsteil festzustellen sind. Aufgrund der individuellen Leistungsunterschiede der Kinder werden die Kinder auch in sehr unterschiedlichem Maße gefördert. In einer Umfrage der Autoren an die Eltern kam folgende Vielzahl von pädagogischen Förderungsmaßnahmen zutage: Krankengymnastik, Ergotherapie, Logopädie, Frühförderung, Musiktherapie, heilpädagogischer Kindergarten, integrativer Kindergarten, Sonderschule für Geistigbehinderte, Sonderschule für Sprachbehinderte, Sonderschule für Lernbehinderte, Diagnose- und Förderklasse und Regelschule. Generelle Empfehlungen sind nicht möglich, man sollte bei jedem Kind auf dessen Stärken und Schwächen achten und danach die Art der pädagogischen Förderung aussuchen. Verschiedene Untersuchungen (Cole&Hughes 1994, Bloom et al. 1983, Bale et al. 1985) belegen die These, dass in den meisten Fällen eine Verbesserung der Ergebnisse über die Zeit hinweg eintritt. Es ist jedoch nicht feststellbar, für wie viel Kinder mit Sotos- Syndrom dieses günstige Verlaufsmuster zutrifft. Hinsichtlich der sprachlichen Entwicklung gibt es ebenfalls Untersuchungen (Clarke et al. 1991, Bloom et al. 1983), die belegen, dass diese verspätet eintritt. Bloom (1983) beschreibt auch Wortfindungsprobleme und ein langsameres Verarbeitungstempo für auditive Reize. Bei der Untersuchung der Autoren fand bei 8 von 10 Kindern ein verspäteter Sprachbeginn statt (erste Worte>24 Monate). Bei der Sprachentwicklung scheint es sich, ebenso wie bei der kognitiven Entwicklung, um ein Phänomen zu handeln, das im Schulalter kompensiert werden kann. Zu diesem Ergebnis kam Finegan et al. 1994 in einer Studie. Zur Entwicklung adaptiver Fähigkeiten liegen nur sehr wenige Untersuchungsergebnisse vor. Bei der Elternbefragung der Autoren stellte sich heraus, dass die Mehrheit der Kinder eine befriedigende lebenspraktische Selbständigkeit beim Essen und Anziehen erreicht hatten. Sozial- emotionale Entwicklung Neben sprachlichen und kognitiven Entwicklungsproblemen wurden in Einzelfallberichten häufig sozial- emotionale Schwierigkeiten geschildert (Varley&Crnic 1984). Rutter&Cole führten eine Untersuchung durch, um dies mit standardisierten Methoden zu prüfen. Es stellte sich folgendes heraus:

Sozial- emotionale Auffälligkeiten bei 16 Schulkindern (nach: Rutter&Cole)
Wutanfälle und aggressives Verhalten zu Hause 13
Schlafprobleme 11
frühes Erwachen 10
phobische Reaktionen (Hunde, Waschmaschinen) 10
geringe Kenntnis von Gefahren 9
exzessives Trinken 9
wenig soziale Kontakte zu anderen Kindern 8
ritualistisch- zwanghaftes Verhalten 8

Hieraus lässt sich erschließen, dass emotionale Auffälligkeiten und soziale Anpassungsschwierigkeiten- besonders im häuslichen Rahmen- für die Mehrheit der Gruppe charakteristisch waren. Die Gründe dafür sind noch nicht endgültig geklärt. Es ist jedoch anzunehmen, dass die Fähigkeiten von Kindern mit dem Sotos- Syndrom aufgrund ihrer Größe leicht überschätzt werden. Die Überforderung, die dadurch entsteht, kann zu sozialer Unsicherheit und aggressiver Reaktion des Kindes führen. Außerdem erleben diese Kinder häufig Misserfolge im Umgang mit anderen Kindern (auch durch ihr Aussehen bedingt), wodurch ihr Selbstwertgefühl sinkt. An anderen Verhaltensauffälligkeiten wurden in der Elternumfrage der Autoren eine kurze Aufmerksamkeitsspanne, motorische Ungeschicklichkeit, Bestehen auf Gewohnheiten und Starrköpfigkeit genannt. Der Ausprägungsgrad der Verhaltensprobleme ist nicht höher als bei Kindern mit Entwicklungsproblemen im Allgemeinen. Das wurde in einer Beurteilung mit einem standardisierten Befragungsinstrument (Developmental Behavior Checklist) herausgestellt. Es stellt sich dann noch die Frage, ob sich bei Kindern mit Sotos- Syndrom ein spezifisches Muster von Verhaltensmerkmalen zeigt oder aber ob diese Verhaltensweisen bei retardierten Kindern mit Großwuchs und dysmorphologischen Zeichen im Allgemeinen zu beobachten sind. Unter diesem Gesichtspunkt führten Finegan et al. Eine Vergleichsstudie bei 27 Kindern mit Sotos- Syndrom (5- 16 Jahre) und 20 Kindern mit Großwuchs anderer Ursache durch. Es stellte sich heraus, dass es kaum signifikante Unterschiede zwischen den beiden Gruppen gab. Soziale Unsicherheit und Unreife, Aufmerksamkeitsprobleme, Hyperaktivität, spezifische Ängste und Schlafprobleme traten in beiden Gruppen etwa gleich häufig auf. Tendenziell waren jedoch sozialer Rückzug und stereotype Verhaltensweisen bei Kindern mit Sotos- Syndrom etwas stärker ausgeprägt. Somit scheint es sich nicht um ein syndromspezifisches Verhaltensprofil zu handeln, sondern um Verhaltensbesonderheiten von großwüchsigen Kindern im Allgemeinen. Zudem untersuchten Finegan et al. (1994) noch Zusammenhänge zwischen IQ, Sprachentwicklungsstand und Verhaltensbesonderheiten. Dabei fiel auf, dass Kinder mit durchschnittlichen kognitiven Fähigkeiten zwar mehr Verhaltensauffälligkeiten gab als bei nicht- behinderten Kindern, jedoch weniger als bei Kindern mit so genannter „kognitiver Retardierung“. Somit scheint es hier Zusammenhänge geben. Die Ziele der pädagogischen Arbeit mit Kindern mit dem Sotos- Syndrom, so kann man abschließend sagen, sind die Anpassung der Erwartungen an die realen Lebensmöglichkeiten sowie die Stärkung des Selbstbewusstseins und der sozialen Kompetenz der Kinder.

 

Dr. Johannes Werle

Dr. med Johannes Werle

Redakteur