Stigmatisierung

Der soziologische Begriff der Stigmatisierung wird von der Rollentheorie, der Theorie des symbolischen Interaktionismus und der Ethnomethodologie als eine entehrende und vom gesellschaftlichen Leben ausschließende Bewertung von auffälligem Verhalten verstanden.

Die Stigmatisierung entsteht im gesellschaftlichen Leben, indem durch selektive Zuschreibung einer Person oder einer Klasse von Personen tatsächliche oder mögliche Eigenschaften zugeschrieben werden. Das Stigma beruht auf Typifikationen, d. h. Verallgemeinerungen von teils selbst-gewonnenen, teils übernommenen Erfahrungen, die nicht mehr überprüft werden.

Stigmatisierungen werden an, von der Majorität abweichenden, sichtbaren und unsichtbaren Merkmalen angeknüpft. Als Eigenschaften dafür kommen beispielsweise in Frage:

  • Körperliche Besonderheiten (z.B. optische Auffälligkeiten, Erkrankungen oder Behinderungen)
  • Spezielle Gruppenzugehörigkeit
  • Verhaltensformen oder Verdachtsmerkmale.

Charakteristisch für den Stigmatisierungsprozess ist, dass ein vorhandenes Merkmal negativ von der Gesellschaft definiert wird und dass im folgenden dem Merkmalsträger weitere negative Eigenschaften zugesprochen werden, die mit dem eigentlichen tatsächlichen Merkmal nichts mehr zu tun haben.

Diese Zuschreibung weiterer Eigenschaften kennzeichnen Stigmatisierungen als Generalisierungen, die sich auf die Gesamtperson in allen ihren sozialen Bezügen erstrecken. Das Stigma wird zu einem ‚master status‘, der wie keine andere Tatsache die Stellung einer Person in der Gesellschaft sowie den Umgang anderer Menschen mit ihr bestimmt.

Der Stigmatisierte steht diesem Prozess hilflos gegenüber und wird in den meisten Fällen die Standards der Hauptgesellschaft für ‚Normalität‘ verinnerlichen und die Zuschreibungen in die Vorstellung von sich selbst integrieren. Er erlebt sich selbst als defizitär, entwickelt Schamgefühle oder andere passive Reaktionsvarianten (kompensierende Fertigkeiten, Psychosomatik usw.).

Diese Reaktionen können wiederum von der Umwelt als Ausdruck der Abweichung aufgefasst werden. Dadurch bilden Defekt und Reaktion quasi eine nahezu untrennbare Einheit. Es ist daher für den Betroffenen äußert schwierig aus dieser Stigmatisierung herauszukommen, denn egal wie er sich verhält, jedes Entgegenwirken wird als Bestätigung der zugeschriebenen Eigenschaften angesehen. Dadurch wird es dem Stigmatisierten fast unmöglich gemacht als vollwertiger Interaktionspartner Anerkennung zu finden.

Weil es ihm schwer fällt zu beurteilen, wie sein Stigma und sein Merkmal vom aktuellen Interaktionspartner gesehen werden, wird er sich in Kommunikationen unsicher, verlegen, angespannt und ängstlich verhalten.

“Für den Stigmatisierten ist es dann schwer, in derart verunsicherten Interaktionen seine persönliche Identität aufrechtzuerhalten oder zu entwickeln.”

Funktion und Entstehung von Stigmatisierung

Stigmata haben eine Orientierungsfunktion in sozialen Interaktionen. Die in ihnen enthaltenen Vorstellungen, Verhaltensanweisungen und Erwartungen strukturieren Situationen im voraus, verringern somit Unsicherheiten der Interaktionspartner und bieten ihnen Entscheidungshilfen. Sie führen jedoch auch zu einer selektierten und verzerrten Wahrnehmung und machen somit neue Erfahrungen unmöglich.

In der Psychologie wird dabei vom Primacy-Effekt gesprochen, bei dem der erste Eindruck einer anderen Person meist auch dann noch bestehen bleibt, wenn der Interaktionspartner diesem nicht entspricht. Besonders häufig ist dieser Effekt bei negativen ersten Eindrücken. So werden als dumm, gefährlich oder inkompetent eingestufte Personen von vornherein gemieden und haben nur geringe Chancen zu beweisen, dass diese Etikettierung nicht zutrifft.

Die Begegnung mit einem Stigmatisierten hat für einen ‚Normalen‘ auch eine regulierende Funktion. Hohmeier spricht in diesem Zusammenhang von einer “Bedrohung der eigenen Identität”. Es erfolgt eine Erinnerung an eigene Abweichungstendenzen und der ‚Normale‘ versucht durch Ablehnung, Interaktionsvermeidung und soziale Isolierung, sowie dem Herausstellen der eigenen ‚Normalität‘, das Gleichgewicht wieder herzustellen.

Auf der gesamtgesellschaftlichen Ebene regulieren Stigmata den sozialen Umgang zwischen Majoritäten und Minoritäten ebenso wie den Zugang zu knappen Gütern der Gesellschaft (Berufchancen, Status usw.).

Machtgruppen kann Stigmatisierung als ein Instrument für die Unterdrückung unerwünschter Gruppen dienen. Beispiele dafür sind die Judenverfolgung im dritten Reich oder die Diskriminierung von Ausländern. Stigmatisierte dienen als ‚Sündenböcke‘, denen nahezu jede Schuld zugewiesen werden kann, um von der Aufdeckung und Beseitigung gesellschaftlicher Probleme abzulenken. Beispiel: ‚Behinderte leben auf Kosten der Allgemeinheit‚.

Des weiteren bieten Stigmatisierte einen Kontrast zur eigenen Normtreue. “Ohne Stigmatisierte wäre es kein Vorteil ’normal‘ zu sein.” Hohmeier stellt vier Hypothesen zur Genese von Ausgrenzung bzw. Stigmatisierung vor.

  • Die erste Hypothese bezieht sich auf die Herrschaftsstrukturen einer Gesellschaft. So bringen bestimmte Institutionen automatisch davon Deviante mit sich (Beispiel: Institution des Privateigentums den Dieb).
  • Die zweite Hypothese besagt, dass sich durch die Entstehung neuer gesellschaftlicher Normen und Leistungsanforderungen Gruppen bilden, die diesen Anforderungen nicht gewachsen sind. Sie fallen durch das Netz sozialer Integration. Für eine Stigmatisierung müssen jedoch weitere Faktoren hinzukommen. Beispielsweise das Eingreifen bestimmter Kontrollinstanzen (Sozialarbeit, Justiz, Polizei usw.).
  • Bei der dritten Hypothese beschreibt Hohmeier die Zweck-Mittel-Orientierung der Gesellschaft. Aufgrund von Anpassungsschwierigkeiten mancher Gruppen (z. B. Behinderte) an die fortschreitende Rationalisierung gesellschaftlicher Verhältnisse (z. B. Arbeitsmarkt) geraten sie ins Abseits und sind durch das Unvermögen zur konformen Leistung diskreditierbar.
  • Inhalt der vierten Hypothese ist die anthropologische Grundausstattung des Menschen. So wird angenommen, dass durch ein natürliches oder anerzogenes Anliegen nach Unterscheidung von anderen Mitmenschen, “nach Triebentladung von Aggressionen, nach Projektion belastender Ansprüche sowie nach Entlastung durch Orientierung an übernommenen Vorurteilen” die Bereitwilligkeit zur Stigmatisierung gegeben ist. Anlass kann die zugrunde liegende Angst vor dem Andersartigen sein.

Dynamik der Stigmatisierung

Da Ingroup-Favorisierung auf den relevanten Bewertungsdimensionen (ingroup-typische positive und outgroup-typische negative) durch eine Outgroup-Favorisierung auf den irrelevanten Dimensionen ausgeglichen wird (outgroup-typische positive und ingroup-typische negative, also relevante für Mitglieder der Outgroup!), ist der Befund bloßer Stereotypenakzentuierung gleichzeitig als fair und selbstwertsteigernd zu beurteilen: In spieltheoretischen Begriffen ist über wechselseitiges log-rolling eine Win-Win-Lösung erreicht, die zur gesellschaftlichen Stabilität der Stereotype beitragen kann.

Quellen / Literatur:

Hohmeier – Stigmatisierung als sozialer Definitionsprozeß

Dr. Johannes Werle

Dr. med Johannes Werle

Redakteur