Überdiagnose

Gemeint sind damit Diagnosen – auch- von schwerwiegenden Erkrankungen, die nie zu Lebzeiten Symptome gemacht hätten, aber dennoch nach Entdeckung durch ein Screening/Vorsorge zur Behandlung führen. Was bei der Interpretation von Statistiken häufig übersehen wird, ist dass die Überlebenszeit bei früherer Diagnose einer Krebserkrankung immer verlängert ist, da ganz einfach wegen der früheren Diagnose ein längerer Verlauf beobachtet werden kann. Ob dabei das längere bewusste Leben mit dem Krebs auch mit einer Verlängerung der Lebenszeit einhergeht ist hingegen manchmal zweifelhaft. Das längere Überleben ab Diagnose kann somit bedeuten, dass man einfach länger von seiner Diagnose weiß, aber genauso lange lebt, wie die Patienten, bei denen die Krankheit nicht oder spät diagnostiziert wird.

Als Lead-time bias (Vorlaufzeit- Bias) definitiert man danach die offensichtlich verlängerte Überlegenszeit durch die frühere Diagnose mittels Screening/Vorsorge, auch wenn die tatsächliche Lebenszeit und das Ergebnis (z.B. Tod am Lungenkrebs) unverändert ist. Es geht hier also nur um mehr Zeit zwischen Diagnose und Tod, als ohne Screening/Vorsorge.

Als Length-time bias (Bezugszeit – Bias) bezeichnet man dabei die Verfälschung der Statistik in Richtung einer scheinbar verlängerten Überlebenszeit durch die Entdeckung relativ gutartiger Krebsgeschwüre die langsam wachsen und damit eine gute Prognose haben, verglichen mit den Krebserkrankungen, die anhand von Symptomen ohne Screening/Vorsorge entdeckt werden. Es ist möglich, dass die besonders aggressiv wachsenden Krebserkrankungen dem Screening/Vorsorge entgehen, und bei den Patienten auch dann wenn sie zur Screening/Vorsorge- Untersuchung gehen im Verlauf des Jahres zwischen den Screenings an Symptomen entdeckt wird, oder die Teilnehmer einer Studie, die an der im Screening gesuchten Erkrankung sterben ohne dass diese überhaupt zu Lebzeiten diagnostiziert wurde.

Das Überdiagnose Bias ist die Extremform des length-time oder Bezugszeit – Bias die Überlebenszeit aller Erkrankten wird zu positiv dargestellt, durch die Identifikation von Krebserkrankungen oder anderen schweren Erkrankungen, die ohne Screening nie entdeckt worden wären, die unentdeckt geblieben wären, weil sie nie Symptome gemacht hätten und auch niemand daran gestorben wäre.

Die Überlebenszeit der Patienten in der Screening/Vorsorge – Gruppe und den Patienten, die der nicht gescreenten Gruppe in Studien zugeordnet wurde, ist auch nur ein Teil der wichtigen Aussagen, auch die Mortalität (wie viele Menschen sterben an der Erkrankung) muss verglichen werden. Nur in großen randomisierten Studien lässt sich langfristig klären, von welcher Vorsorgeuntersuchung bestimmte Patientengruppen tatsächlich profitieren. Die Überlebensraten von Menschen, bei denen in einer Screeninguntersuchung ein noch sehr kleiner Krebs festgestellt wurde können nicht mit den Überlebensraten von Menschen, bei denen auf Grund von Symptomen Krebs diagnostiziert wurde verglichen werden. Es ist zunächst unbekannt, wie häufig die kleineren im Screening entdeckten Befunde tatsächlich zu einer Erkrankung oder zum Tod geführt hätten. Hier wird bei den meisten Krebserkrankungen weiter geforscht, mit zum Teil ungewissem Ausgang.

Typische Beispiele sind die PSA- Testungen von Männern mit der Diagnose Prostatakrebs oder die Mammographie- Screenings mit der Diagnose kleiner lokal begrenzter Karzinome der Milchgänge. Auch das Screening bezüglich Lungenkrebs hat bisher keinen eindeutigen Nutzen für die Studienteilnehmer nachweisen können. Zwar wurden bei den Röntgenuntersuchungen der Lungen bisher nicht bekannte kleine Tumore entdeckt, die Patienten in der Gruppe die sich dem Screening unterzog, lebte aber nicht länger, ein Teil der Tumore die frühzeitig entdeckt und behandelt wurden hätte nie Symptome gemacht. Neuerdings werden bei Rauchern Spiral- CT Vorsorge-Untersuchungen in Studien gemacht, ob sich hierdurch ein überwiegender Nutzen für die Raucher herausstellt, ist noch nicht absehbar.
Überdiagnosen beschränken sich nicht auf Krebserkrankungen. Bei alten 265 englischen Patienten wurde beispielsweise untersucht, wie häufig die Überdiagnose eines Harnwegsinfektes ist. Bei 43,4% der alten Patienten, die wegen eines Harnwegsinfektes behandelt wurden, trafen die in Leitlinien genannten diagnostischen Kriterien nicht zu. Die Mortalitätsrate betrug 6.0%, Komplikationen waren häufig 8% sekundäre Clostridium difficile Diarrhöen, 4% Stürze, 3% MRSA- Infektionen, 2% Knochenbrüche.

 

Quellen / Literatur:

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Dr. Johannes Werle

Dr. med Johannes Werle

Redakteur